
Weihnachtsgeschichten
© Patricia Koelle
Es gab noch andere Wanderer an diesem tonlosen Dezembertag, doch sie verliefen sich so sandkorngleich auf dem breiten Strand, als wäre ich endlich allein mit meinen Fragen.
Die Stille verblüffte mich. Ich kannte dieses versehentliche Stückchen Land zwischen Himmel und Wasser seit Kinderzeiten und hatte mir vorsorglich einen festen Zopf geflochten, denn die Knoten aus meinem Leben waren leichter herauszubekommen als die, welche Nordseeinselwind in langen Haaren hinterlässt.
Doch das Meer hatte sich in einer fernen Ebbe zusammengerollt und war nur als grauer Strich zu ahnen, und der Wind, nach dem ich mich gesehnt hatte, streunte andernorts. Die klare Frostluft ruhte schlaff auf dem Sand wie ein verlorenes Tuch. Dafür war der Himmel, dem ich hier im Dezember bisher nur als geballtes graues Stürmen begegnet war, eine blaue Überraschung.
Ich löste meinen Zopf wieder. Ich kann Zöpfe nicht leiden; meine Gedanken verstricken sich darin. Gerade jetzt, wo ich mich an einen davon gewöhnen musste, der sich sperrte.
Walter war mein Freund gewesen, nicht der Freund, aber einer von jenen, die die Tage anders färben, als sie ohne ihre Gegenwart gewesen wären.
Sein Tod war nicht unerwartet. Ich hatte ihn schon bei unserem letzten Treffen als eine geduldige Gegenwart in Walters Augen gesehen. Ja, ich hatte Walter in diesem Wissen sogar einen Abschiedskuss gegeben, den ersten und letzten Kuss, den es zwischen uns gegeben hat, und in dem Kuss war ein Bedauern gewesen und ein Frösteln.
Doch ich hatte noch viele Briefe und Telefonate in unsere Zeit gerechnet. Walter pflegte mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu klingeln, um zwei oder drei Uhr, und mir Bruchstücke von Geschichten vorzulesen, die ihn gerade faszinierten. Nach dem ersten Ärger gewöhnte ich mich daran und fiel, wenn er seine Gegenwart in meinem Ohr mit dem Hörerklicken beendete, sofort und besser in den Schlaf, in den ich die Geschichten mitnahm und zu Ende träumte. Kurz vor Weihnachten waren es immer besonders viele Geschichten, als gäbe es in Walter einen Stau, den er noch vor Jahresende auflösen musste.
Manchmal waren es auch kratzige Lieder, die er im Radio gehört und mit seinem ausgeleierten Diktafon aufgenommen hatte und mir durch das Telefon vorspielte. Schon da hörte es sich an, als würde er von viel weiter weg anrufen als von dieser Erde. Im November war es I believe in Angels gewesen, immer und immer wieder, obwohl das gar nicht zu Walter passte.
Niemals hatte ich damit gerechnet, dass sein Tod mir in der Adventszeit wie eine Weihnachtskarte in den Briefkasten flattern würde.
Genau da hatte das Kuvert gelegen, feucht, weil der Briefkasten undicht war: Zwischen einem Angebot der Pizzeria, die Weihnachtsgans zum Feiertagspreis liefern wollte, und einer rauschhaft bunten Krippenszene, auf deren Rückseite mir Tante Ortrud frohe Festtage wünschte.
Ich kannte die Handschrift nicht. Als ich den Umschlag aufriss, fiel mir ungeöffnet mein eigener Brief in die Hand, den ich kürzlich an Walter geschrieben hatte. Dabei lag eine zittrige Notiz von seinem Vater, der mir mitteilte, dass Walter nach den bisherigen Ermittlungen drei Wochen lang tot in seinem Stuhl gesessen hatte, mit dem Gesicht zum Fenster gewandt, vor welchem es in dieser Zeit dreimal geschneit und wieder getaut hatte.
Ich hatte mich nicht über sein Schweigen gewundert, da er sich zu einer Reise abgemeldet hatte. An die Nordsee. Wohin genau, sagte er nicht.
Nachdem ich aber die Nachricht erhalten hatte, konnte ich fünf Nächte nicht schlafen, weil das Telefon nicht klingelte. Schließlich nahm ich ein paar Tage Urlaub und fuhr dorthin, wo ich immer hinfahre, wenn etwas unerträglich wird. Und nun enttäuschte mich der Himmel, der mir kein wildes Rauschen und Brausen um die Ohren warf und das Grübeln nicht übertönte, der keinen Wind in die Seele jagte und wieder Klarheit schaffte, keine hohen Wellen schenkte, die etwas hätten fortspülen können. Statt Sturm gab er mir stillen, weiten Raum, und in den Raum fielen Bilder, die ich nicht sehen wollte, und breiteten sich aus.
Ich zog die Schuhe aus und machte mich auf; nun musste ich den Weg gehen und hoffen, dass am anderen Ende, wo ich das Meer erahnte, etwas leichter wurde. Der Sand bildete weiche Strudel zwischen meinen Zehen, kleine Kiesel blitzten nass und silbern wie ein Augenzwinkern, das mir fehl am Platze erschien, und mit jedem Schritt schienen die Wellen, die ich suchte, noch weiter zurückzuweichen.
Selbst die Möwen waren stumm; fast ein Ding der Unmöglichkeit. Sie standen auf einem Bein nachlässig in den Fluttümpeln und hatten jeweils nur ein Auge für mich übrig. Meine Trauer verstanden sie nicht. Für einen Moment wünschte ich mir, sie hätten Walter gekannt.
Das flache Wasser, das um ihre Füße trieb, war so unschuldig klar wie die unzähligen Flaschen Korn, in denen Walter, gerade dreiundvierzigjährig, den Rest seines Lebens versenkt hatte. Mitsamt den Bildern, die noch in ihm gewartet hatten. Er konnte Bilder malen, die einen ganzen Tag verschluckten, den man brauchte, um sich hineinzusehen. Bilder, die einsam waren und wunderschön und ein wenig erschreckend, Bilder, die neugierig machten auf das, was hinter der Welt sein könnte, und den Betrachter staunen ließen über das, was er davor übersehen hatte.
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… die vollständige Geschichte findet sich in dem Buch / eBook
Weihnachtsgeschichten
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-9-8 (Buch)
ISBN 978-3-939937-57-9 (eBook epub-Format)
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