Patricia Koelle: Der Engel am Ende des Himmels

Weihnachtsgeschichte Patricia Koelle: Der Engel am Ende des Himmels

Weihnachtsgeschichten

Der Engel am Ende des Himmels
© Patricia Koelle

 
Es gab noch andere Wanderer an diesem tonlosen Dezembertag, doch sie verliefen sich so sandkorngleich auf dem breiten Strand, als wäre ich endlich allein mit meinen Fragen.

Die Stille verblüffte mich. Ich kannte dieses versehentliche Stückchen Land zwischen Himmel und Wasser seit Kinderzeiten und hatte mir vorsorglich einen festen Zopf geflochten, denn die Knoten aus meinem Leben waren leichter herauszubekommen als die, welche Nordseeinselwind in langen Haaren hinterlässt.

Doch das Meer hatte sich in einer fernen Ebbe zusammengerollt und war nur als grauer Strich zu ahnen, und der Wind, nach dem ich mich gesehnt hatte, streunte andernorts. Die klare Frostluft ruhte schlaff auf dem Sand wie ein verlorenes Tuch. Dafür war der Himmel, dem ich hier im Dezember bisher nur als geballtes graues Stürmen begegnet war, eine blaue Überraschung.

Ich löste meinen Zopf wieder. Ich kann Zöpfe nicht leiden; meine Gedanken verstricken sich darin. Gerade jetzt, wo ich mich an einen davon gewöhnen musste, der sich sperrte.

Walter war mein Freund gewesen, nicht der Freund, aber einer von jenen, die die Tage anders färben, als sie ohne ihre Gegenwart gewesen wären.

Sein Tod war nicht unerwartet. Ich hatte ihn schon bei unserem letzten Treffen als eine geduldige Gegenwart in Walters Augen gesehen. Ja, ich hatte Walter in diesem Wissen sogar einen Abschiedskuss gegeben, den ersten und letzten Kuss, den es zwischen uns gegeben hat, und in dem Kuss war ein Bedauern gewesen und ein Frösteln.

Doch ich hatte noch viele Briefe und Telefonate in unsere Zeit gerechnet. Walter pflegte mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu klingeln, um zwei oder drei Uhr, und mir Bruchstücke von Geschichten vorzulesen, die ihn gerade faszinierten. Nach dem ersten Ärger gewöhnte ich mich daran und fiel, wenn er seine Gegenwart in meinem Ohr mit dem Hörerklicken beendete, sofort und besser in den Schlaf, in den ich die Geschichten mitnahm und zu Ende träumte. Kurz vor Weihnachten waren es immer besonders viele Geschichten, als gäbe es in Walter einen Stau, den er noch vor Jahresende auflösen musste.

Manchmal waren es auch kratzige Lieder, die er im Radio gehört und mit seinem ausgeleierten Diktafon aufgenommen hatte und mir durch das Telefon vorspielte. Schon da hörte es sich an, als würde er von viel weiter weg anrufen als von dieser Erde. Im November war es I believe in Angels gewesen, immer und immer wieder, obwohl das gar nicht zu Walter passte.

Niemals hatte ich damit gerechnet, dass sein Tod mir in der Adventszeit wie eine Weihnachtskarte in den Briefkasten flattern würde.

Genau da hatte das Kuvert gelegen, feucht, weil der Briefkasten undicht war: Zwischen einem Angebot der Pizzeria, die Weihnachtsgans zum Feiertagspreis liefern wollte, und einer rauschhaft bunten Krippenszene, auf deren Rückseite mir Tante Ortrud frohe Festtage wünschte.

Ich kannte die Handschrift nicht. Als ich den Umschlag aufriss, fiel mir ungeöffnet mein eigener Brief in die Hand, den ich kürzlich an Walter geschrieben hatte. Dabei lag eine zittrige Notiz von seinem Vater, der mir mitteilte, dass Walter nach den bisherigen Ermittlungen drei Wochen lang tot in seinem Stuhl gesessen hatte, mit dem Gesicht zum Fenster gewandt, vor welchem es in dieser Zeit dreimal geschneit und wieder getaut hatte.

Ich hatte mich nicht über sein Schweigen gewundert, da er sich zu einer Reise abgemeldet hatte. An die Nordsee. Wohin genau, sagte er nicht.

Nachdem ich aber die Nachricht erhalten hatte, konnte ich fünf Nächte nicht schlafen, weil das Telefon nicht klingelte. Schließlich nahm ich ein paar Tage Urlaub und fuhr dorthin, wo ich immer hinfahre, wenn etwas unerträglich wird. Und nun enttäuschte mich der Himmel, der mir kein wildes Rauschen und Brausen um die Ohren warf und das Grübeln nicht übertönte, der keinen Wind in die Seele jagte und wieder Klarheit schaffte, keine hohen Wellen schenkte, die etwas hätten fortspülen können. Statt Sturm gab er mir stillen, weiten Raum, und in den Raum fielen Bilder, die ich nicht sehen wollte, und breiteten sich aus.

Ich zog die Schuhe aus und machte mich auf; nun musste ich den Weg gehen und hoffen, dass am anderen Ende, wo ich das Meer erahnte, etwas leichter wurde. Der Sand bildete weiche Strudel zwischen meinen Zehen, kleine Kiesel blitzten nass und silbern wie ein Augenzwinkern, das mir fehl am Platze erschien, und mit jedem Schritt schienen die Wellen, die ich suchte, noch weiter zurückzuweichen.

Selbst die Möwen waren stumm; fast ein Ding der Unmöglichkeit. Sie standen auf einem Bein nachlässig in den Fluttümpeln und hatten jeweils nur ein Auge für mich übrig. Meine Trauer verstanden sie nicht. Für einen Moment wünschte ich mir, sie hätten Walter gekannt.

Das flache Wasser, das um ihre Füße trieb, war so unschuldig klar wie die unzähligen Flaschen Korn, in denen Walter, gerade dreiundvierzigjährig, den Rest seines Lebens versenkt hatte. Mitsamt den Bildern, die noch in ihm gewartet hatten. Er konnte Bilder malen, die einen ganzen Tag verschluckten, den man brauchte, um sich hineinzusehen. Bilder, die einsam waren und wunderschön und ein wenig erschreckend, Bilder, die neugierig machten auf das, was hinter der Welt sein könnte, und den Betrachter staunen ließen über das, was er davor übersehen hatte.

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Tanja Müller: 25 Dezember

Weihnachtsgeschichten

25. Dezember
© Tanja Müller

 
Dichte Schneeflocken fielen sanft auf die harte, gefrorene Erde, bis sie unter einer weißen Decke verschwand. Tannenwipfel ragten hoch in den stahlgrauen Abendhimmel, der langsam von der beginnenden Nacht verschluckt wurde.

Ein knirschendes Geräusch durchbrach die Stille des Waldes. Es waren Schritte, langsam, gemessen.

Der alte Mann zog schniefend die von der Kälte rot angelaufene Nase hoch. Seine Hände hatte er tief in die Taschen seines leuchtend roten Mantels vergraben. Eiskristalle sammelten sich im weißen Pelz seiner Kapuze. In seinem grauen Bart glitzerten gefrorene Schneeflocken wie kleine Sterne.

Der alte Mann blieb kurz stehen, seufzte, rückte den breiten schwarzen Gürtel um seinen mächtigen Bauch zurecht, um dann weiterzumarschieren.

Bilder blitzten in seiner Vorstellung auf, Bilder vergangener Weihnachtsfeste.

Ein kleines Mädchen im blauen Kleidchen, auf dem Arm seiner Mutter, das staunend die Nadeln des duftenden Tannenbaumes betastet …

Ein Junge, der mit seiner kleinen Schwester auf einem zugefrorenen See Schlittschuh läuft und sich schon auf den heißen Kakao in der warmen Wohnstube freut …

Eine junge Frau, auf dem Sofa sitzend, in den Armen ihr neugeborenes Baby, ihr Mann, der die Kerzen am Weihnachtsbaum anzündet …

Eine alte Frau, alleine in ihrer Wohnung vor dem Fernseher, die Augen fest geschlossen, die Gedanken auf ihren verstorbenen Mann gerichtet …

Der alte Mann schüttelte seinen massigen Körper, wie um sich von den Erinnerungen zu befreien, die sich in seinem Kopf festgesetzt hatten, er wollte sie abstreifen wie dünne Spinnweben.

Die Nacht hatte sich herabgesenkt, Dunkelheit über die verschneite Landschaft gelegt. Goldene Sterne standen am Himmel, begrüßten jeden, der noch unterwegs war. Ein strahlender, fast voller Mond erhellte die Schwärze des Tannenwaldes. Der silberne Lichtschein brachte den Schnee zum Glitzern, als ob Millionen Kristalle über die Erde verstreut wären.

Der alte Mann marschierte weiter, in Gedanken versunken, ohne Sinn für die Schönheit der Landschaft. Seine schweren Stiefel sanken knirschend in den Schnee ein, hinterließen tiefe Spuren.

Am Rande einer Lichtung blieb er stehen und richtete seinen Blick auf die Silhouette eines nahen Dorfes. Warmes Licht schien aus den Fenstern in die Nacht, kleine orangefarbene Punkte in der Dunkelheit.

Leiser Gesang wehte zu dem alten Mann herüber, getragen von einem schneidend kalten Wind, der wie glühende Nadelspitzen auf der Haut brannte. Es waren alte Lieder, Melodien, die seit Generationen erklangen, Worte, die schon von Seelen gesungen wurden, an die sich längst keiner mehr erinnerte. Sie handelten von Geborgenheit, Wärme, kündigten bessere Zeiten an. Hoffnung versprachen sie den Menschen, die bereit waren, daran zu glauben.

Der alte Mann lauschte mit geschlossenen Augen, hörte auf die alten Lieder und die Stille des Waldes, die ihn umgab. Er atmete tief die eisige, klare Luft ein und genoss den Geruch von Kälte.

„Chef, Chef, hier sind Sie also!“ Eine piepsige Stimme, keuchend vor Anstrengung, durchbrach die Einsamkeit des Waldes.

Langsam drehte sich der alte Mann um und blickte auf eine kleine Gestalt, die schwer atmend mit rotem Kopf vor ihm stand und ihn vorwurfsvoll anblickte. Die dunkelgrüne Mütze war dem Männchen fast bis über die Augen gerutscht, sein grüner Mantel schräg zugeknöpft.

„Hallo, Pixie, hast du mich gesucht?“

„Ja, Chef. Die ganze Werkstatt sucht Sie schon. Ihre Frau macht sich Sorgen.“

„Ich bin nur spazieren gegangen …“

Pixie zog die Nase hoch. „Wieder Ihre nachweihnachtliche Depression, Chef?“

„Ja.“ Der alte Mann zog die buschigen Augenbrauen zusammen. „Man arbeitet zwei lange Monate hart auf einen einzigen Abend hin, einen kurzen Abend voller Freude und Glück, und ehe man weiß, wie einem geschieht, ist alles vorbei. Monate ohne Arbeit liegen vor mir, ohne sinnvolle Beschäftigung.“ Er zuckte die Achseln. „Ich fühle mich so überflüssig.“

„Wie jedes Jahr, Chef.“

„Ja.“ Ein verstohlenes Lächeln schlich sich in die Mundwinkel des alten Mannes. „Wie jedes Jahr, Pixie. Und wie jedes Jahr wird es auch diesmal vorübergehen.“

„Genau. Aber wir sollten umkehren, Chef. Alle warten auf Sie. Es wird Zeit, dass Sie Ihr eigenes Weihnachtsfest feiern, nachdem Sie alle Menschen glücklich gemacht haben.“

„Glücklich …“ Der alte Mann blickte über die Schulter auf das hell erleuchtete Dorf zurück. „Glücklich machen nicht die Geschenke, die ich verteile, glücklich machen die Gefühle, die Weihnachten auslöst; die Geborgenheit in einer Familie. Das ist Glück.“

„Mag sein, Chef.“ Pixie trippelte von einem Fuß auf den anderen. „Aber Sie machen einen verdammt guten Job, ohne den vor allem viele Kinder sehr traurig wären.“

„Du hast Recht.“ Der alte Mann legte seine große Hand auf die Schulter des Männchens. Er lächelte. „Gehen wir zurück. Auch auf uns warten liebe Freunde und ein warmes Feuer. Die Sehnsucht kann warten bis nächstes Jahr.“

Langsam stapften sie durch den Schnee, die große und die kleine Gestalt, die Schultern hochgezogen zum Schutz vor der alles durchdringenden Kälte. Sie verschwanden als schwarze Schatten im dunklen Wald.

Leise rieselte der Schnee herab und verwischte ihre Spuren.

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Weihnachten
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Willi Brenner: Raunacht

Weihnachtsgeschichten

Raunacht
© Willi Brenner

 
Ich hatte Lena ermahnt, sie solle den Schnee nicht essen, davon würde sie Husten bekommen. Als sie es wieder tat, schlug ich ihr den weißen Klumpen ärgerlich aus der Hand und drohte ihr eine Ohrfeige an. So wie unsere Mutter wollte ich klingen, streng und unerbittlich, das bisschen Autorität einer älteren Schwester gewürdigt wissen. Inmitten des verschneiten Waldes, durch den wir mühsam unseren Leiterwagen zogen, erhob ich den Zeigefinger, erklärte altklug den Zusammenhang zwischen Schnee, Husten und Bauchweh. Außerdem, und davon versprach ich mir die größte Wirkung, würde es für ein krankes Kind kein Weihnachtsfest geben, keinen geschmückten Baum, keine Lieder und kein Geschenk. Nur bittere Medizin.

„Kein Geschenk?“

„Nein. Nichts.“

Lenas blaue Augen weiteten sich erst ungläubig, dann machte sich Entsetzten in ihrem Gesicht breit.

Ich blieb standhaft, genoss schweigend meinen Sieg. Dabei hatte ich etwas für sie in diesem Jahr. Das restliche Sackleinen hatte für eine Puppe ausgereicht, mit Sägespänen gefüllt, zwei weißen Knopfaugen und Wollresten, die einen bunten Haarschopf formten. Einen lachenden Mund hatte ich ihr mit Nadel und rotem Faden auch noch verpasst.

Gucki war ein wenig unförmig geraten, die Arme gar kurz und dick, wartete sie mit ihrem rundlichen, gut gepolsterten Bauch versteckt auf dem hohen Bücherregal darauf, endlich in kleine Kinderhände gelegt zu werden.

Ich sah das strahlende Gesicht meiner Schwester vor mir, die schon mit weniger zufrieden war, alles zum Leben erwecken konnte, selbst einen Stein zu ihrem Freund erklärte.

Besonders an den letzten Tagen vor Weihnachten fiel es mir zunehmend schwerer, nichts von Gucki zu erzählen.

Der vierundzwanzigste Dezember hatte seinen Glanz verloren, jedes Jahr ein wenig mehr. Allmählich waren die duftenden Zimtsterne und der Lebkuchen vom Gabentisch verschwunden. Und gerade als Lena das Alter erreicht hatte, in dem man lernt zu staunen, schimmerten keine bunten Christbaumkugeln mehr an unserem Baum.

„Die Zeiten sind schlecht“, hatte mein Vater einmal gesagt. Inzwischen war auch er verschwunden und viele andere mit ihm.

Als Weihnachten auch seine Geschichten einbüßte, keine Märchen und Erzählungen mehr vorgelesen wurden, in dem Jahr, als niemand mehr so recht darüber sprechen wollte, weil mein Vater Recht behalten hatte, zu dieser Zeit begann ich Gucki zu nähen. Und als ich die Puppe spät nachts im schwachen Licht einer Glühbirne so unbeirrt fröhlich lächeln sah, wie ich es selbst nicht gekonnt hätte, war der Entschluss in mir gereift, den Heiligen Abend doch noch heilig zu machen.

Wir setzten uns wieder in Bewegung. Lena schob, ich zog an der Deichsel, so fest ich konnte. Die Dämmerung kroch zwischen den Bäumen auf uns zu und ließ die Konturen der etwas weiter entfernten Stämme langsam in den grauen Hintergrund einfließen. Noch vor Einbruch der Nacht erreichten wir die Hauptstraße, auf der wir unseren Leiterwagen einsam durch das Zwielicht schoben. Große Weichselbäume, deren dunkelrote, säuerliche Früchte im Frühsommer Kinder und Wespen gleichermaßen anzogen, säumten nun die schneebedeckte Straße. Die Kirschenallee musste noch durchquert werden, um die ersten Häuser des Ortes zu erreichen.

Der alte Sutter-Bauer hatte das Quietschen und Klappern unseres Leiterwagens wohl schon aus der Ferne gehört und winkte uns freundlich aus seinem Vorgarten zu. Er hielt einen langen Stock in der Hand und klopfte damit auf die Äste seines Apfelbaumes. Dies tat er mit großer Sorgfalt, ließ keinen der dickeren Äste aus und wiederholte die Prozedur mehrmals.

„Habt’s einen Baum geholt“, rief er uns zu und deutete vergnügt auf die kleine Fichte auf unserem Wagen.

Lena, die den alten Mann gern hatte, weil er den Kindern im Sommer oft Marillen und später auch Äpfel von seinen Bäumen schenkte, lief ohne zu zögern an den Zaun und fragte, was es mit dem Stock auf sich hätte.

Der alte Bauer wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und schob seinen Filzhut zurecht. „Das macht man, um die Geister zu vertreiben“, sagte er geheimnisvoll. „Damit wir auch nächstes Jahr wieder gute Äpfel haben.“

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, wusste ich doch, wie einfach es war, Lenas Fantasie zu beflügeln.

„Sechs Nächte vor und sechs nach Weihnachten, da ist der Umgang“, fuhr der alte Sutter mit ernster Miene fort. Er kannte unsere Lena und ihren Hunger nach Märchen und Geschichten. „In den Zwölfernächten, da haben sie alle Ausgang, die Guten und die Bösen. Sie treiben sich in den Wäldern herum, fliegen durch die Luft, schleichen um die Häuser.“

„Und hocken in den Apfelbäumen“, fügte ich hinzu.

„Und hocken in den Apfelbäumen“, bestätigte der alte Mann lächelnd. „Aber es ist schon richtig, Haus und Hof segnen zu lassen in dieser Zeit“, mahnte er und wischte sich mit der Hand wieder über die laufende Nase. „Ist nicht erst einmal die Milch noch im Euter sauer geworden und das Stroh in der Scheune verfault.“ Er drehte sich um und deutete auf eines der Fenster, aus dem ein schwacher Lichtschein drang. „Jedenfalls lege ich in den Nächten um Weihnachten immer ein paar meiner besten Äpfel draußen auf das Fensterbrett. Wer in diesen Nächten hier vorbeikommt, dem soll diese Gabe gehören.“

„Isst die denn wer?“, fragte Lena aufgeregt.

„Hat noch kein Jahr gegeben, in dem ein Apfel übrig geblieben wäre.“

Umständlich kramte der alte Bauer in seiner Hosentasche nach dem Sacktuch und schnäuzte sich lautstark. Ich zog Lena vom Zaun weg. Knapp zwanzig Minuten waren noch zu marschieren und die Nacht hatte uns fast eingeholt.

Niemals hätte ich es zugegeben, aber die Raunächte, die Umgänge und all das Brauchtum zeigten stets ihre Wirkung bei mir. Neben der Krampusnacht, in der so mancher Witzbold mit Teufelsmaske und Haselnussrute auf seine Kosten kam, hatte ich auch einige der Raunächte als dunkler, dichter und länger in Erinnerung, als mir lieb war. Geschichten hatte es früher viele gegeben und auch genügend Brüder oder Großväter, um sie verängstigten Kindern zu erzählen. Zu dieser Zeit des Jahres tanzten die Geister tatsächlich ihren wilden Reigen, hausten in den Köpfen der Menschen und nutzten deren Einbildungskraft für ihre Streiche.

Wir verabschiedeten uns von dem alten Bauern, bedankten uns für die Äpfel, die er Lena und mir in die Hände drückte, und schoben unseren Karren weiter durch die verschneiten Straßen.

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Sabine Liefke: Weihnachtswunder

Weihnachtsgeschichten

Weihnachtswunder
© Sabine Liefke

 
Bestimmt zum zehnten Mal rannte ich zum Kinderzimmerfenster. Draußen war alles grau und düster. Die Straße schimmerte feucht, von den kahlen Bäumen fielen dicke Tropfen und die letzten Laubreste lagen in der Gosse. Leer war es auf der Straße. Normalerweise sah man wenigstens ein paar Katzen herumstreunen, Vögel bei der Futtersuche oder den alten Opa Holzmann, der mit seinem Hund spazieren ging.

Enttäuscht drehte ich mich vom Fenster weg und ließ meinen Blick durchs Zimmer schweifen. Alles war blitzblank. Schon seit zwei Tagen. Wie jedes Jahr war auch dieses Mal der Spruch von meiner Mutter gekommen: „Räum endlich dein Zimmer auf, sonst bringt dir das Christkind nichts.“ Was tut man nicht alles, um sich vor Weihnachten bei den Eltern beliebt zu machen.

Natürlich glaubte ich schon lange nicht mehr an das Christkind, aber ich wollte meiner Mama nicht ihre Illusionen nehmen. Die denkt nämlich, dass es dieses wundersame Wesen wirklich gibt. Und die Mutter von Jonas, meinem besten Freund, auch. Sie erzählt uns immer wieder gerne von dem Tag, an dem sie es angeblich getroffen hat. Früher haben wir die Geschichte geglaubt und jeden Tag in der Adventszeit Ausschau nach ihm gehalten. Doch weil es nie kam und auch unsere Freunde dem Christkind nie begegnet sind, haben wir begriffen, dass es nur ein Märchen ist. Oder vielmehr eine Ausrede, damit wir unsere Zimmer aufräumen und im Haushalt helfen und einmal keine Streiche aushecken. Jedenfalls hatte ich mein Zimmer, so gut es ging, aufgeräumt und nun kam es mir langweilig und fremd vor. Ich traute mich nicht, mit irgendetwas zu spielen, weil ich es sonst wieder unordentlich machen würde und mit dem Aufräumen von vorne beginnen müsste.

Bis zum Heiligen Abend waren es noch fünf lange Tage und das Schlimmste war, dass noch nicht einmal Schnee lag. Dann hätte man wenigstens draußen spielen können, Schneemänner bauen, Schneeballschlachten machen oder Schlitten fahren. Mama sagte immer: „Wenn es erst sehr spät im Jahr schneit, waren viele Kinder unartig. Möchtest du auch schuld daran sein, wenn es in der Adventszeit keinen Schnee gibt?“ Ich glaube ja eher, dass es die Schuld des Wettermannes aus der Nachrichtensendung ist. Der sagt doch immer, wie das Wetter wird. Vielleicht sollte ich ihn mal anrufen und fragen, ob er Schnee ansagen kann und nicht Regen.

Entschlossen, diese Idee mit Jonas zu besprechen, nahm ich Mütze, Schal und Jacke aus meinem Kleiderschrank und suchte meine Mutter. So wie es im Flur roch, war sie bestimmt in der Küche und buk Weihnachtsplätzchen. Das war, abgesehen von Eiszapfen und Schnee, das Schönste an der Weihnachtszeit. Immer duftete es nach Plätzchen, Kuchen und Stollen. Und wenn man es richtig anstellte, konnte man auch heimlich vom Teig naschen ohne erwischt zu werden. Mama stand am Küchentisch und säuberte ihn gerade von Mehl und Teig. Das Backblech war im Ofen und ich freute mich schon auf den nächsten Morgen – zum Frühstück würde es Plätzchen und Christstollen mit Nüssen und Rosinen geben. Meine Mama sah ziemlich zerzaust aus. Die dunklen Haare fielen wirr durcheinander, an den Wangen klebte Mehlstaub und die bunte Schürze, die sie umgebunden hatte, hatte mehrere Teigflecken.

Ich fragte, ob ich zu Jonas gehen dürfte. Sie nickte fröhlich. „Sei aber um sechs zurück. Wir wollen dann zu Abend essen.“

„Das ist ja wunderbar“, dachte ich, „ganze drei Stunden Zeit.“

Meine dicken Stiefel standen im Flur, ich zog sie schnell an und huschte aus dem Haus. Auf der Straße sog ich die frische Luft tief ein. Es war kalt und roch nach Schnee. Endlich! Um das Haus zu erreichen, in dem Jonas wohnte, musste ich die Straße hinunterlaufen und dann eine große Wiese überqueren. Es war nicht weit, keine zehn Minuten. Als ich mich der Wiese näherte, fielen ein paar vereinzelte Schneeflocken auf meine Nase und ich sprang vor Freude in die Luft. Bald würden Jonas und ich Wettrennen mit unseren Schlitten veranstalten können.

Voller Vorfreude stapfte ich weiter. Auf der Wiese blieb ich erstaunt stehen. Mitten im nassen Gras saß ein kleines Mädchen und weinte.

„Typisch“, dachte ich mir, „Mädchen weinen ja immer. Aber warum zum Kuckuck sitzt das Mädchen bei diesem Wetter auf dem Boden?“

Sie war höchstens sechs Jahre alt. Ihre silbrigblonden Haare lockten sich um ihr blasses Gesicht und in der Hand hielt sie eine alte, schäbige Puppe. Ich sah, dass sie kaputt war – ein Bein war abgerissen. Ich stapfte über die Wiese, und als ich vor dem Mädchen stand, blickte sie mich mit großen Augen an.

„Was hast du denn? Warum weinst du?“, fragte ich und versuchte im Stillen zu erkennen, welche Farbe ihre Augen hatten. Sie waren irgendwie blau und grün, oder doch eher braun?

„Seltsam“, dachte ich, als sie mit glockenheller Stimme zu sprechen begann: „Ein großer Junge mit roten Haaren hat meine Puppe kaputt gemacht. Ich wollte meiner Angela das Laufen beibringen. Da kam der Junge und lachte mich aus. Er riss sie mir aus den Händen und richtete sie so zu. Meine arme Angela …“

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Christian Klinger: Das Mädchen vom Christkindlmarkt

Weihnachtsgeschichten

Das Mädchen vom Christkindlmarkt
© Christian Klinger

 
Der Schausteller beobachtete das Kind nun schon geraume Zeit. Er sah seinem übermütigen Tollen zu, wie es von Holzbude zu Holzbude lief und sich jedes Mal mit den Händen von der Bretterwand wie von einem Tanzpartner abstieß, um der nächsten Hütte entgegenzutreiben.

„Pass auf! Wirst sehn, die Kleine wird glei’ wieder da sei’“, meinte seine Frau bissig.

„Kann schon sein“, gab er ihr knapp zur Antwort. Insgeheim hoffte er, dass es so sein würde. Er liebte es, wenn sie sich wie ein Kreisel durch die Besucher hindurch auf seinen Stand zudrehte und dabei ihre Zöpfe im Takt dieses imaginären Tanzes durch die Luft wirbelten.

„Schenkst mir des Windradl da?“ Wie schon an den Tagen zuvor stand sie da und stellte ihm dieselbe Frage. Dabei deutete sie mit leuchtenden Augen auf das unscheinbare Windrad, das ganz hinten im Eck zwischen den japanischen Monsterfiguren und den koreanischen Babypuppen steckte. Ein schlichtes Spielzeug ohne glitzernden Aufdruck oder lärmendes Beiwerk, das kaum jemandem auffiel.

„Warum möchtest du denn unbedingt dieses Windrad haben?“, fragte der Budenbesitzer und erntete dafür einen finsteren Blick seiner Frau.

„Weils doch so schen is’!“

Der Mann befand sich in einer Zwickmühle: Würde er dem Drängen des Mädchens nachgeben, würde ihm seine Frau zeigen, wie sich die Hölle auf Erden anfühlen kann. Schickte er das Mädchen abermals weg, würde ihn sein Gewissen wegen dieser Hartherzigkeit plagen.

„Schau, dass’d weiter kommst, du Fratz!“, herrschte seine Frau das Kind an.

Mit enttäuschtem Blick wandte sich das Mädchen ab.

Er sah noch die rote Haarschleife in der Menschenmenge aufblitzen, dann war das Kind seinem Blick entschwunden.

Er überlegte, ob er wegen dieses Vorfalls eine Diskussion mit seiner Frau beginnen sollte, doch wieder kam ihm diese zuvor: „Hast g’sehn, wie dünn die anzogen war? Über manche Eltern kann man sich nur wundern!“

„Sie hat Recht“, dachte er still bei sich. Ihm war bislang gar nicht aufgefallen, dass das Mädchen nur mit einem kurzen Röckchen, das nicht einmal bis über die Knie reichte, bekleidet war. Selbst mit den Strümpfen, die die Waden einhüllten, schien es nicht ausreichend gegen die beißende Kälte geschützt. Wenn er sich ihr Bild in Erinnerung rief, so kam ihm jetzt der Eindruck, dass die Kleine überhaupt absonderlich gekleidet war. Nicht dass sie mit ihrer Strickjoppe, dem karierten Rock und den Stutzen an ihren Füßen, die in Lackschuhen steckten, nicht adrett ausgesehen hätte, aber sie wirkte so anders. Er ließ seine Augen über den Platz wandern. Er sah Frauen mit Glatze in Militaryhosen, deren männliche Begleiter ihre Haare zu einem Zopf gebunden hatten, junge Mädchen mit bunt gefärbtem Schopf, Burschen, deren Haare wie Stacheln in die Höhe ragten. Ja, er war sich sicher, dieses Mädchen war anders. Es war etwas Besonderes.

„Schenkst mir des Windradl da?“

Der Standler war froh, dass das Kind wiedergekommen war. Bevor seine Frau es verjagen konnte, fragte er: „Warum nimmst du denn deine Eltern nicht mit? Ich bin sicher, die würden dir das Windrad gerne zu Weihnachten schenken.“

Das Mädchen antwortete kleinlaut: „Ich hab’ doch keine Eltern mehr. Schenkst mir … bitte, bitte … des Windradl?“

Die Frau wälzte sich zu den beiden hinüber. Sie hatte einen Blick aufgesetzt, der zu sagen schien: Na, was hab ich dir gesagt? Total verwahrlost, das Kind!

Sie rief einen Polizisten herbei. Wenig später stand der uniformierte Verweser staatlicher Hoheitsgewalt bei der Bude. Es war der Beamte, der für diesen Teil des Marktgebietes zuständig war. Mittlerweile war er ihnen gut bekannt, da er gelegentlich auf ein Stamperl vorbeikam. Er erkundigte sich bei der Frau, was denn los sei, worauf ihm diese die Geschichte mit dem umherstreunenden Kind erzählte. Der Polizist beugte sich zu dem Kind hinab. Seine Worte hatten ihm wohl das nötige Vertrauen eingeflößt, denn es folgte ihm ohne Widerrede. Schnell drängte sich die Frau an ihrem Mann vorbei, denn ihre Neugierde zwang sie, den beiden zu folgen.

Keine fünf Minuten später stand das Kind wieder vor ihm. „Schenkst mir des Windradl da?“

Das war der Moment, auf den er während der letzten Tage gewartet hatte. Er beugte sich nach vorn und reichte dem Mädchen das Windrad. In dessen Gesicht trat ein Strahlen, so schön, wie man es nur in einem Kindergesicht finden kann. Der Mann verspürte einen eisigen Luftzug, dann war das Kind in der Menge verschwunden. Er versuchte noch, ihre Haarschleife auszumachen, konnte aber das leuchtende Rot nirgends mehr entdecken.

Wenig später kehrten seine Frau und der Polizist an den Stand zurück. Der Polizist hatte einen verängstigten Blick, sein Gesicht war bleich wie der künstlich erhellte Rathausbau. Die Frau war merkwürdig schweigsam. Ihr erster Weg führte sie hinter die Verkaufstheke, wo sie sich und dem Polizisten ein großes Glas Klaren einschenkte, das beide in einem Zug hinunterkippten.

Verwundert erkundigte sich der Mann, was denn passiert sei. Der Polizist nickte, noch bleicher als zuvor, und begann stotternd die Geschichte zu erzählen. Man habe dem Kinde geheißen, es möge in der Wachstube im Nebenzimmer warten. Zur Sicherheit habe man den Raum noch verschlossen, ehe man im Archiv nach den Vermisstenmeldungen suchen wollte. Alle Unterlagen, sogar solche, die schon Jahre zurücklagen, habe man durchgesehen. Wie durch einen Zufall sei dann ein Foto zwischen den Seiten herausgepurzelt, das der Kleinen haargenau geglichen hätte. Der Polizist stockte und die Frau betonte, wie grauslich die Geschichte doch sei. Auf Drängen des Mannes fuhr der Polizist fort: Das Bild habe zu einer Anzeige aus dem Jahr 1970 gehört. Ein Mädchen sei ganz in der Nähe, während man die U-Bahn gebaut habe, bei einer Baustelle in einen offenen Schacht gefallen, als es sich nach seinem Windrad beugte, das ihr wohl der Wind aus der kleinen Hand gerissen hatte. Man vermutet, das Kind wäre in dem Schacht, der einen Abwasserstrang in den Donaukanal führte, fortgespült worden. Der Untergrund habe es nie wieder freigegeben.

Die Frau goss noch einen Schnaps ein, bekreuzigte sich und jammerte, wie schrecklich so ein Erlebnis doch gerade am Tag vor Weihnachten sei.

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Antonia Stahn: Weihnachten auf Grönland

Weihnachtsbuch Weihnachtsgeschichten

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Weihnachten auf Grönland
© Antonia Stahn

 
Er ist da! Feine weiße Pünktchen zuerst, dann große, dichte Flocken. Der Wind treibt sie durch den Garten.

Paulinchen und Jonas stehen auf einem Stuhl vor dem Fenster.

„Schau, Pauly!“, sagt Jonas verträumt. „Es sieht aus, als wollten die Schneeflocken uns begrüßen.“

Paulinchen nickt. Neugierig betrachtet sie das Gesicht ihres Zwillingsbruders. Wenn Jonas so aussieht, denkt er sich Geschichten aus. Pauly liebt Jonas’ kleine Gute-Nacht-Erzählungen sehr. „Vielleicht erzählt er mir heute Nachmittag ein neues Märchen. Dann ist das Warten auf das Christkind nicht so langweilig“, denkt sie.

Jonas springt mit einem Satz von dem Stuhl. Fröhlich hüpft er im Zimmer herum.

„Du, Paulinchen! Weißt du eigentlich, was heute für ein Tag ist?“

Leicht ärgerlich schaut Pauly ihren Bruder an. Doch dann hüpft sie ausgelassen durchs Zimmer. „’türlich weiß ich das!“ Sie neigt das Köpfchen ein wenig zur Seite und legt den Zeigefinger an ihre Oberlippe. Macht sie immer, wenn sie nachdenkt. „Weißt du, Jonas, heute ist ein … ähm, ein … jetzt hab ich’s: Heute ist ein Alles-auf-einmal-Tag“, sagt sie glücklich und dreht sich im Kreis. An den Fingern zählt sie ab: „Papa und Mama kommen heute von ihrer Konzertreise zurück, das Christkind kommt heute Abend – und der Schnee, den Opa uns versprochen hat, ist schon da!“

Leise öffnet sich die Tür. „Hallo, ihr beiden. Da sind wir wieder!“, sagt Mama lächelnd. Sie breitet die Arme aus. Schnell wie der Wind laufen die Kinder hinein. Dann darf auch Papa seine beiden Lieblinge umarmen.

Es hat aufgehört zu schneien. So viel Schnee am Heiligen Abend hat es seit Jahren nicht mehr gegeben. Staunend betrachten die Kinder die weiße Welt.

Nach etlichen Schneeballschlachten – merkwürdigerweise gewinnen Jonas und Pauly jede Schlacht – beginnen Opa und Papa, große Schneekugeln zu rollen. Jonas hilft eifrig mit. Paulinchen nicht. Sie ist müde. Außerdem möchte sie jetzt lieber Mama und Oma bei den Weihnachtsvorbereitungen helfen.

„Oder sie will Geschenke ausspionieren“, flüstert Jonas Opa zu.

„So sind sie, die Frauen“, schmunzelt Opa. „Stets etwas neugieriger als wir.“

Nach einer guten Stunde sind die Schneemänner fertig. Opa, Papa und Jonas haben gleich eine ganze Familie gebaut. Vater, Mutter und zwei Kinder.

Ein älterer Herr lehnt an der Gartenpforte des Nachbarhauses. Vergnügt schaut er dem „Schneetreiben“ seiner Nachbarn zu. Gerne würde er mitmachen. Aber er traut sich nicht, fühlt sich viel zu alt. „Wunderbare Schneemänner sind das!“, ruft er. „Hab schon zu meiner Frau gesagt: Sie können Ihre Kunst nicht leugnen. Einem Bildhauer ist wohl jedes Material recht. Sogar Schnee! Die Schneekinder haben erstaunlich hübsche Gesichter. Sehen beinahe wie Ihre Enkel aus, Herr Kleeveken. Na dann! Schöne Feiertage allerseits!“

Nachdenklich betrachtet Jonas die weißen Kunstwerke. „Schade. Lange werden sie nicht bei uns sein, oder Papa? Gibt es denn keinen sicheren Platz auf dieser Welt für Schneemänner?“

„Hm“, überlegt Papa, „Im Norden Grönlands könnten sie unbeschadet überwintern. Dort ist es kalt genug.“

Mama kommt aus dem Haus und bringt eine kleine, künstliche Tanne. „So eine nette Schneemann-Familie braucht auch einen Weihnachtsbaum“, sagt sie und drückt Mutter Schneemann das Bäumchen in den Arm.

Heiligabend dürfen Jonas und Pauly so lange aufbleiben wie sie wollen. Eine halbe Stunde vor Mitternacht liegt Jonas endlich im Bett. Müde und doch nicht schläfrig. Er schaut zu Paulinchen hinüber. Mit roten Schlafbäckchen liegt sie da, die neue Babypuppe fest an sich gedrückt. Auch Jonas hat sein heiß ersehntes Geschenk bekommen. Ein silberfarbener Roller steht neben dem Nachtschränkchen. Hin und wieder streichelt Jonas über den Lenker.

Still ist es in dieser Heiligen Nacht. Plötzlich hört Jonas sonderbare Geräusche. Stimmengemurmel? Er steht auf und klettert auf seinen Fensterstuhl. Beunruhigt schaut er in den verschneiten Vorgarten und traut seinen Augen nicht.

„Geht nicht! Schneemänner laufen nicht herum!“

Jonas nimmt sich vor, seine Augen mindestens eine Minute geschlossen zu halten. Wie lang eine Minute ist, weiß er nicht so genau. „Aber: Wenn ich dann in den Garten gucke und die Schneemänner immer noch dort herumlaufen, ist das da unten wirklich“, sagt er sich. „Eineminuteträume gibt es nicht.“

Die Schneemänner stehen inzwischen auf der Straße. Hastig zieht sich Jonas an. Mit den Schuhen in der Hand schleicht er die Treppe hinunter. Niemand im Haus hört ihn. Alle schlafen tief und fest.

„Schön, dass du gekommen bist, kleines Menschenkind“, begrüßt Vater Schneemann den Jungen. „So können wir uns wenigsten bei einem von euch verabschieden und Danke sagen.“

Traurig schaut Jonas seine Freunde an. „Aber, aber weshalb wollt ihr uns verlassen“, fragt er leise, „gefällt es euch in unserem Vorgarten nicht?“

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Weihnachten
Weihnachtsgeschichten
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Birge Laudi: Es ist ein Ros entsprungen

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Es ist ein Ros’ entsprungen …
© Birge Laudi

 
Und sie gebar ihren erstgeborenen Sohn zu der Zeit, als große Arbeitslosigkeit herrschte und die Menschen ihre Schulden nicht mehr begleichen konnten. Sie wickelte das Kind in Windeln, steckte es in eine Plastiktüte und trug den Knaben hinaus in die klirrende Kälte. Vor dem Haus öffnete sie den Deckel der blauen Altpapiertonne und legte die Plastiktüte mit dem wimmernden Kind hinein. Krachend schlug der Deckel zu und niemand mehr konnte das leise Wimmern des Neugeborenen hören.

Die junge Frau ging wieder hinauf in ihre schäbige Wohnung im Dachgeschoss des Plattenbaus an der Hafenstraße. Sie goss sich ein großes Glas Schnaps ein und löste darin eine Packung Schlaftabletten auf. Nachdem sie den Todescocktail getrunken hatte, legte sie sich in ihr Bett und wartete auf das Sterben. Und während sie allmählich hinüberdämmerte in die tiefe Bewusstlosigkeit, die dem Tod vorausgeht, hörte sie ein Singen die Straße heraufkommen: „Es ist ein Ros’ entsprungen …“

Es war Weihnachten.

Sie lächelte und schlief langsam ein.

Lautlos webten Schneeflocken vor dem Fenster einen weißen Vorhang und verhüllten ihre Armut, ihre Verzweiflung und Einsamkeit.

Ein Engel aber ging im dichten Schneetreiben singend durch die Stadt. Der Engel war alt und zerlumpt, in einer Hand trug er eine Schnapsflasche, mit der anderen hielt er die Fetzen seines Mantels zusammen. Er brabbelte vor sich hin, nahm hin und wieder einen Schluck aus der Flasche und wiederholte die ersten Takte von „Es ist ein Ros’ entsprungen …“ Dann lachte er laut, trank und sang wieder.

Ab und zu hob der Engel den Deckel einer Mülltonne an, um nach Essensresten zu wühlen, nach gebrauchten Kleidungsstücken oder nach irgendetwas, das ihn vor der Kälte schützen könnte. Heute am Heiligen Abend.

So gelangte der betrunkene Engel auch zu der blauen Altpapiertonne vor dem Plattenbau. Der Engel wusste, Zeitungen wärmen, und so wollte er sich einen kleinen Vorrat sichern für die Nachtruhe auf der Parkbank. Als er den schweren Deckel anhob, drang ein klägliches Wimmern an seine Ohren und mitten hinein in sein besoffenes Gehirn.

„Es ist ein Ros’ entsprungen, aus einer Wurzel zart“, grölte er los. Dann endlich begriff sein Gehirn, was seine Ohren hörten. Er hob die Plastiktüte heraus und spähte in das blutverschmierte Innere. Da lag, fast nackt und blaugefroren, ein neugeborener Junge. Er hing noch an Nabelschnur und Mutterkuchen, die ihn neun Monate lang so gut versorgt hatten und jetzt nutzlos waren.

Der Engel schwankte ein wenig und lächelte ein alkoholblödes Lächeln.

„Hallo, du“, sagte er. „Bist ein Christkind, gell? Frierst recht! Bist nicht der Einzige, der in dieser Stadt friert.“

Er schlüpfte aus seinem zerschlissenen Mantel und wickelte das Kind darin ein. Dann trug er es hinüber zur Polizeistation auf der anderen Straßenseite und sang dabei nicht ganz so laut, um das Kindlein nicht zu erschrecken: „…. und hat ein Blümlein ’bracht. Mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht.“

Mit dem letzten Ton seines Liedes stieß er die Tür zur Wachstube auf und legte das wimmernde Bündel auf den Tisch.

Tadelnd sahen die Beamten auf. „Bist schon wieder betrunken, Alter. Wenigstens am Heiligen Abend solltest das Saufen sein lassen.“

Doch dann hörten auch sie das leise Weinen aus dem schmutzigen Haufen Kleidung heraus.

„Was ist das denn? Hast einen jungen Hund gefunden?“

„Das ist euer Christkind“, grinste der Alte, nahm einen Schluck aus der Flasche, grölte „Es ist ein Ros’ entsprungen …“ und wankte zur Tür hinaus in die Kälte. Ohne Mantel und ohne Zeitungen, die ihn hätten schützen können.

„Halt! Halt!“, schrien die beiden Beamten gleichzeitig. „Woher hast du das Kind?“

Vage zeigte der alte, schmutzige und sturzbetrunkene Engel auf die andere Straßenseite, wo die Reihe der Mülltonnen allmählich im Schnee versank. Dann hatte auch ihn der Schnee verschluckt.

„…. hat uns gebracht alleine Marie, die reine Magd“, sang es aus dem Schneegestöber heraus, während aus der Ferne das Heulen des Krankenwagens näher kam und blaues Geflacker einen gespenstischen Lichtschein über die Mülltonnen schickte.

Als der Morgen des ersten Weihnachtstages anbrach, strömten die Guten und die Frommen zur Kirche. Vor dem hässlichen Plattenbau blieben sie ein Weilchen stehen, wünschten sich ein frohes Weihnachtsfest, tuschelten mit schief gelegten Köpfen.

„Haben Sie schon gehört?“

„Das arme Wurm! Einfach in die Mülltonne!“

„Na, Gott sei Dank ist es noch rechtzeitig gefunden worden.“

„Muss einen Schutzengel gehabt haben.“

„Leider haben sie die Rabenmutter auch noch rechtzeitig gefunden!“

„Auf der Intensiv liegt sie jetzt.“

„Solche Mütter haben eigentlich kein Recht mehr zu leben.“

Und dann gingen sie weiter, das Gesangbuch in der Hand, die neue Pelzmütze auf dem Kopf und in Vorfreude auf den Gänsebraten am Mittag.

Die Tür der Kirche stand einladend offen und Glocken und Orgel verkündeten die große Freude, die den Menschen heute durch die Geburt des Herrn widerfahren war.

Auf den Stufen der Kirche aber lag ein Bündel alter Kleider. Aus dem schmutzigen Haufen ragte eine Hand mit einer Schnapsflasche heraus. Die Frommen empörten sich über die Haltlosigkeit des Nichtstuers und Landstreichers, der ihnen mit seinem Anblick die Weihnachtsfreude nahm, und sie versuchten, den Alten auf die Seite zu schieben. Der aber war hart gefroren.

Der Engel war tot. Und jubelnd erklang aus der Kirche heraus die frohe Botschaft: „Es ist ein Ros’ entsprungen, aus einer Wurzel zart.“

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Lionne Berger: Engelsschnurren

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Engelsschnurren
© Lionne Berger

 
Düstere Wolken hingen über dem Land. Kein passendes Heiligabend-Wetter. Sehr passend aber zu Katjas Stimmung. Und zu dem Kloß im Hals, der immer mehr zu wachsen schien, je näher die Autobahn sie ihrem Ziel brachte. Der Villa ihres Onkels und ihrer Tante, bei denen sie auch in diesem Jahr die Weihnachtszeit verbringen sollte.

Katja seufzte. Sie brauchte dringend eine Pause an der frischen Luft, am besten auch einen Kaffee. Leider hatte sie gerade erst eine Tankstelle ignoriert. Daher fuhr sie auf den nächsten Rastplatz. Eine ungepflegte Angelegenheit, wie sich herausstellte, mit dreieinhalb grauen Bänken, einem ebenso grauen WC-Häuschen, einer Reihe Mülltonnen und einem Feldweg ins Nirgendwo.

In ihre Winterjacke gewickelt stapfte Katja zum WC-Häuschen. Schon aus der Entfernung roch sie Urin und schimmelnde Lebensmittel. Aus einer der Mülltonnen drang ein Scharren. Katja zuckte zusammen. Vorsichtig hob sie den Deckel hoch und spähte in die Tonne. Auf einer Plastiktüte maunzte kläglich eine Handvoll weißes Fell. Katja hob das zitternde Kätzchen heraus und schob es unter ihre Jacke, um es zu wärmen. Es schmiegte sein Köpfchen an ihren Hals und schnurrte sich auf der Stelle in ihr Herz.

Katja streichelte das ausgehungerte Tier liebevoll. Es brauchte dringend etwas zu fressen. Vielleicht fand sich in der Nähe jemand, der mit Wurst und Milch aushelfen konnte. Danach würde sie weitersehen.

Kurz entschlossen setzte sie sich samt Kätzchen ins Auto und fuhr auf den Feldweg. Nach ein paar Minuten Holpern durch eine hügelige Einöde tauchte ein Häuschen auf. Katja parkte das Auto am Rand des Weges und stieg aus. Aus einem der Fenster fiel warmes Licht in die Dämmerung des Winternachmittags. Katja drückte die Klingel. Ein melodisches Dingdong erklang. Kurz darauf leichte Schritte, dann schwang die Tür auf. Eine alte Frau in einer blau-weiß karierten Schürze blickte erstaunt auf den kleinen Katzenkopf, der aus Katjas Jacke lugte.

Stammelnd versuchte Katja, den Grund der Störung zu erklären. Aber noch bevor sie ihre Ausführungen beendet hatte, zog die Frau sie durch den Flur in eine große, warme Wohnküche.

Ein Tisch aus hell poliertem Holz stand in einer Ecke, eingerahmt von einer rot bezogenen Eckbank und mehreren Stühlen. Gegenüber eine kleine Tanne mit weißen Kerzen, geschnitzten Engeln und Tierfiguren, die mit bunten Bändern an den Zweigen befestigt waren. Im Raum schwebte Nelkenduft, vermischt mit Orange, Zimt und Schokolade.

Die Frau wies auf die Eckbank, nickte kurz, als Katja sich setzte, und begann, in der Küche herumzuwuseln. Still beobachtete Katja, wie die Frau Hackfleisch und Milch aus dem Kühlschrank holte, in die Mikrowelle stellte und danach aus dem Topf auf dem Herd eine große Tasse mit heißem Kakao füllte und sie Katja über den Tisch schob. Dann gab sie den aufgewärmten Inhalt der Mikrowelle in zwei Futternäpfe und stellte diese auf die Dielen.

„Jetzt kann das arme Ding erst mal etwas fressen.“

„Vielen Dank“, sagte Kaja, „das ist wirklich ganz lieb von Ihnen.“

„Gern geschehen!“ Die alte Frau ließ sich auf dem Stuhl nieder und sah Katja prüfend an. „Trinken Sie doch. So heiß ist er nicht mehr. Sie sehen ja fast genauso verhungert aus wie die Katze.“

„Fehlt nur noch, dass sie mich ebenfalls armes Ding nennt“, dachte Katja. „Aber sie hat ja Recht.“ Die letzten Monate hatte Katja vorwiegend von Kaffee gelebt, nur wenig gegessen, kaum richtig geschlafen und gar nicht mehr gemalt. Und abgenommen, natürlich. Sie grinste schief darüber, dass eine völlig Fremde so direkt war, aber die Besorgnis hinter den Worten rührte sie.

Sie nahm einen vorsichtigen Schluck aus der Tasse. Oh, daher also der Zimtgeruch! Kakao, Zucker und Zimt in einer sahnigen Milch mit weiteren geheimnisvollen Zutaten. Genießerisch leerte sie die Tasse und war fast in Versuchung, sich mit der Zunge den Mund abzuschlecken, so wie es das Kätzchen gerade tat.

Die alte Frau lächelte ihr zu. „Ein hübsches Tier, nicht wahr?“

Katja nickte.

„Ich hatte auch eine Katze. Sie ist leider vor zwei Monaten gestorben, nur kurz nach meinem Mann. Und ich habe es einfach noch nicht geschafft, mir eine neue zu holen.“

„Oh.“ Etwas Besseres fiel Katja nicht ein.

„Aber was rede ich da, Sie müssen sicher weiter. Ihre Familie wartet bestimmt schon auf Sie.“

Katja sah zum Weihnachtsbaum hinüber, zu den Kerzen, deren Wachs auf die Zweige tropfte und die viel heller zu leuchten schienen als die elektrischen Lichter an der überladenen Edeltanne im Salon ihrer Pflegeeltern. Katjas Finger kribbelten. Zum ersten Mal seit Wochen verspürte sie wieder das Bedürfnis zu malen. Einen Pinsel in die Hand zu nehmen und Farben zu finden für dieses Licht und den Duft nach Ruhe und Geborgenheit.

„Ja“, erwiderte sie zögernd. „Ich müsste mich tatsächlich beeilen. Man wartet sicher schon auf mich.“

„Das klingt nicht gerade begeistert.“

Katja zuckte die Schultern.

Die Frau hob die Augenbrauen. „Und warum nicht?“

Lag es an der ehrlichen Anteilnahme der alten Frau, an der so ungewohnt weihnachtlichen Stimmung oder einfach daran, dass sie zu lange alles in sich hineingefressen hatte? Was auch immer der Grund sein mochte, Katja stand nicht auf und ging, sondern begann zu erzählen. Wie ihr Onkel und ihre Tante, kinderlos, Katja nach dem Unfalltod ihrer Eltern vor acht Jahren zu sich genommen hatten. Das stille, verträumte Kind zur Erbin ihres Firmenimperiums heranzogen. Nach dem Abitur dann das Praktikum in der Berliner Filiale, 60 Stunden in der Woche Produktivität und Effizienz. Danach würde selbstverständlich das BWL-Studium folgen, sodass Katja in die Fußstapfen ihres Onkels treten konnte. Katjas Liebe zum Malen schoben ihre Pflegeeltern als vorübergehende tagträumerische Bewältigungsphase eines elternlosen Teenagers beiseite, ihre zaghaften Äußerungen, dass BWL sie nicht interessierte, interpretierten sie als verständliches Bauchgrimmen vor einer solch bedeutsamen Aufgabe und sicherten ihr zu, ihr auf jede Art „beim Hineinwachsen in die großen Schuhe“ zu helfen. Das Problem war, dass Katja diese Schuhe gar nicht anziehen wollte. Etwas, das ihr erst jetzt, wo sie es zum ersten Mal ausgesprochen hatte, richtig klar wurde.

„Ich habe mich einfach nicht getraut, es ihnen zu sagen. Dass ich Kunst studieren und malen möchte. Sie wären so furchtbar enttäuscht. Verstehen Sie das?“

Die alte Frau nickte. „Oh ja, das verstehe ich. Sehr gut sogar.“ Sie sah Katja nachdenklich an. „Wissen Sie, mein Mann war Künstler. Er wäre buchstäblich eingegangen, wenn er nicht hätte malen können. Ich denke, Sie werden sich entscheiden müssen, was Sie wirklich wollen.“

Katja atmete tief durch. Sie konnte nicht länger still sitzen. Vorsichtig legte sie das Kätzchen, das zusammengerollt auf ihrem Schoß schlief, auf die Eckbank, stand auf und trat ans Fenster.

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Eva Markert: Marzipankartoffeln

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Marzipankartoffeln
© Eva Markert

 
„Das kann nicht dein Ernst sein!“ Klaus warf seiner Frau einen entgeisterten Blick zu.

„Heute ist Heiligabend, da darf man schon mal sündigen!“, erwiderte sie und nahm noch eine Marzipankartoffel.

„Aber wir haben doch gerade erst zu Mittag gegessen.“

Die dritte Kartoffel landete in Kerstins Mund. „Mmm, lecker!“

„Du kannst unmöglich noch Hunger haben!“

„Hunger nicht, aber einen Riesenappetit. Diese Marzipankartoffeln schmecken unglaublich gut. Du solltest auch mal eine probieren.“ Sie hielt ihm die 500-Gramm-Dose hin.

Abwehrend streckte Klaus beide Hände aus und wandte den Kopf ab. „Für kein Geld der Welt könnte ich jetzt noch Marzipan essen.“

„Aber ich.“ Kerstin langte wieder zu. Sie grinste. „Und ich tue es sogar umsonst.“

„Dass dir nicht schlecht wird“, murmelte Klaus und begann den Tisch abzuräumen. Bevor er den Deckel auf die Dose stülpte, runzelte er die Stirn. „Sag mal, die haben wir doch erst heute Morgen gekauft. Hast du all die Marzipankartoffeln in der kurzen Zeit verschlungen?“

„Ich hatte eben Lust darauf.“ Kerstin nahm den Deckel wieder ab und griff zu.

Sie saß am Tisch und aß, während Klaus das Geschirr in die Spülmaschine räumte. In seinem Gesicht arbeitete es. Als die Dose zum wiederholten Male knackte, wandte er sich zu Kerstin um. „Ich verstehe dich nicht. Dauernd jammerst du über deine Figur. Willst abnehmen. Warum stopfst du dich dann mit Marzipan voll?“

Kerstins Daumen und Zeigefinger, zwischen denen eine Marzipankartoffel klemmte, stockten kurz vor ihrem geöffneten Mund. „Findest du mich zu dick?“

„Nein, das habe ich nicht gemeint.“

Kerstin warf die Kartoffel in den Mund. „Volltreffer!“, brachte sie hervor und kaute zufrieden.

„Was ich meinte, ist, wenn du so weitermachst …“

„Ich werde nicht ewig so weitermachen, da kannst du ganz beruhigt sein.“

Bis die Küche aufgeräumt war, hatte sich der Pegelstand in der Dose noch weiter gesenkt. Inzwischen schaute Klaus recht finster drein. „Dir wird übel werden und dann verdirbst du uns das ganze Fest.“

Kerstin lehnte sich zurück und rieb mit der Hand leicht über ihren Magen. Als Klaus die Dose wegräumte, protestierte sie nicht.

Er setzte sich ihr gegenüber und sah sie prüfend an.

„Oh nein“, stöhnte sie, „ich glaube, du hattest Recht.“

„Dir ist schlecht?“

„Ja! Ich glaube, ich muss …“ Sie sprang auf und rannte aus der Küche.

„Ich hab’s gewusst“, rief er ihr hinterher. „Fröhliche Weihnachten, kann ich da nur sagen!“

Als Kerstin zurück in die Küche gewankt kam, sah sie ziemlich blass aus.

Klaus seufzte. „Sicher musst du dich jetzt hinlegen.“

„Nein, nein“, widersprach sie. „Wir machen weiter wie geplant. Lass mich nur einen Augenblick verschnaufen. Dann schmücke ich den Weihnachtsbaum und du fängst mit den Vorbereitungen für das …“ – sie verzog das Gesicht – „… für das Abendessen an.“

Schnell kehrte Farbe in ihre Wangen zurück und bald darauf blitzten ihre Augen wieder. „Auf geht’s“, rief sie. „Und komm ja nicht rein, bevor ich dich rufe!“

Klaus musste lächeln. Kerstin hatte eine ganz bestimmte Vorstellung davon, wie ein Weihnachtsbaum auszusehen hatte, und das Schmücken war für sie eine Zeremonie, die sie sehr ernst nahm.

„Hast du überhaupt schon die Schachteln mit dem Baumschmuck aus dem Keller geholt?“, fragte er.

„Ich habe alles vorbereitet, du brauchst dich um nichts zu kümmern. Aber denk dran: Zutritt verboten!“ Damit schlug sie ihm die Wohnzimmertür vor der Nase zu.

Es kam Klaus so vor, als ob sie dieses Jahr besonders lang für das Herrichten des Weihnachtsbaumes brauchte. Jedenfalls hatte er den Rotkohl schon vorbereitet, die Klöße geformt und die Gans in den Bräter gelegt, als sie ihn endlich rief.

Lächelnd erwartete sie ihn vor der geschlossenen Tür. Er strich ihr über die Haare und gab ihr einen Kuss. Jedes Jahr präsentierte sie ihm ihren Weihnachtsbaum, als ob es das erste Mal wäre. Dabei sah er immer gleich aus: kunterbunt mit elektrischen Kerzen und Goldlametta. „Ein Kinderbaum“, sagte sie immer. „So finde ich ihn am schönsten.“

Mit einem Schwung riss sie die Wohnzimmertür auf. Die Kerzen brannten schon, obwohl sie sonst immer darauf bestand, damit zu warten, bis es dunkel war. Auch hatte sie viel weniger Kugeln und Lametta in dem Baum verteilt. Stattdessen …

Er rührte sich nicht vom Fleck.

„Dieses Jahr habe ich ihn ein bisschen anders geschmückt“, rief sie. „Gefällt es dir?“

Er konnte nicht einmal nicken. Nur langsam sickerte in ihn hinein, was er da sah.

Sie zog ihn bis vor den Baum. Zögernd streckte er seine Hand aus und berührte die winzigen Schühchen, Lätzchen und Schnuller, die in den Zweigen hingen.

„Du …“

Sie nickte und strahlte ihn an.

Er ließ sich aufs Sofa fallen. „Ich … ich … freu mich ja so“, stammelte er.

Sie kuschelte sich an ihn. „Weißt du, was ich jetzt am allerliebsten hätte?“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Ein paar von diesen überaus köstlichen, dicken, weichen, saftigen Marzipankartoffeln.“

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Elke Link: Hertas größter Wunsch

Weihnachtsbuch Weihnachtsgeschichten

Weihnachtsgeschichten

Hertas größter Wunsch
© Elke Link

 
Hertas größter Wunsch, einmal wieder wie früher Weihnachtsgeschenke kaufen zu können, sollte auch dieses Jahr nur ein Traum bleiben.

Geschenke aussuchen, Geschenke verpacken, Geschenke überreichen … Schenken, anderen eine Freude machen, in glückliche, dankbare Augen schauen …

Wie oft schon hatte Herta von einer großen Familie geträumt, von Kindern und Enkelkindern, die sie besuchten, die mit ihr Weihnachten feiern wollten.

Eine Holzeisenbahn, eine Puppe mit Schlafaugen, eine kleine Trommel, einen Schlitten würde sie gerne verschenken. Eine Menge Plätzchen müsste sie backen, ein paar gute Flaschen Wein, eine Weihnachtsgans besorgen …

Es war ein trauriges Jahr, das vergangene.

„Du darfst mich doch nicht auf dieser buckeligen Welt alleine lassen“, hatte Herta ihren langjährigen Begleiter Gabriel angefleht, als dieser im Frühjahr, als endlich dieser lange strenge Winter vorüber war und die Vögel wieder zu zwitschern begannen, nach einer kurzen schlimmen Lungenentzündung starb. Als er so still dalag, hatte er ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen und Herta fühlte eine Trostlosigkeit in sich, mit der sie nicht umgehen konnte.

Seit Gabriels Tod gab es wenig, worüber sie sich freuen konnte. Die Zeiten, in denen sie sich an ihn anlehnen konnte, waren Vergangenheit. Sie vermisste die wunderbaren Gespräche, sein Verständnis für alle ihre Sorgen, seine weisen Ratschläge. Er war stets ein guter Freund. Ihr bester Freund.

Und nun hatte sie niemanden mehr auf dieser Welt. Kinder hatte sie keine und alle Verwandten waren längst gestorben.

In der Vorweihnachtszeit saß Herta oft am Fenster ihrer winzigen Ein-Zimmer-Wohnung und schaute nach draußen auf die verschneite Straße. Von hier aus beobachtete sie die vielen Leute, die ihre Autos auf dem großen Parkplatz abstellten, um dann in das Einkaufszentrum zu hasten.

Kinder quengelten, weil sie müde wurden, und selbst der große aufgeblasene Plastik-Weihnachtsmann interessierte sie schon lange nicht mehr.

Ganz links hinten wurden Weihnachtsbäume verkauft. 17,99 Euro das Stück. 17,99 Euro – was könnte sich Herta dafür alles kaufen! Brot, ein paar Eier, mal wieder ein paar neue Perlon-Kniestrümpfe, die billigen, 5 Stück zu 1,49 Euro … Nein, einen Weihnachtsbaum konnte sie sich aus dem Kopf schlagen.

Herta hatte ein paar Tannenzweige in eine Vase gestellt und ein paar Strohsterne drangehängt. Eine dicke, rote Kerze stand auf dem alten Kerzenständer, den Herta Jahr für Jahr aus der Schublade hervorholte.

Es war kalt heute, es zog durch das undichte Fenster. Der Vermieter wollte kein Geld mehr in das Haus stecken und so blieb Herta nichts anderes übrig, als sich den dicken Schal umzuhängen, den sie sich vor Jahren gestrickt hatte.

Trotzdem wurde ihr nicht warm. Sie legte die Wolldecke beiseite, die sie sich um die Beine geschlagen hatte, erhob sich aus ihrem alten Sessel, nahm den Mantel vom Haken und zog ihn an. Als sie in die Tasche griff, um die Handschuhe herauszunehmen, hielt sie plötzlich eine Ein-Euro-Münze in der Hand. Sie schaute das Geldstück an, als sei es etwas Besonderes. Ein Lächeln wehte über ihr Gesicht.

Eilig lief sie die Treppe hinunter, überquerte die Straße, zwängte sich mit den vielen Kunden durch die gläserne Drehtür in das Kaufhaus.

Die Münze hielt sie immer noch fest in der Hand, als sei sie die Fahrkarte ins Schlaraffenland. „Klick“ machte es, als der Euro in der Plastikvorrichtung verschwand und den Einkaufswagen für Herta freigab. Herta schob nun „ihren“ Wagen vor sich her und betrat ihre Traumwelt.

Hier gab es Holzeisenbahnen in allen Größen, in verschiedenen Farben, gelackte und lasierte, moderne und auch altmodische, mit großen Rädern und mit kleinen.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die vielen Puppen sah. Sie nahm jede einzelne in die Hand, bewegte Arme und Beine, strich über die Haare, bewunderte die schönen Kleider und konnte sich nicht entscheiden, welche von zweien sie nehmen sollte, sodass sie beide in ihren Einkaufswagen packte.

Warme Pantoffeln könnte Gabriel gebrauchen. Wie oft hatte er sich welche gewünscht und immer wieder verzichten müssen. Welche Größe hatte er noch? Herta konnte sich nicht genau erinnern. So stapelte sie von verschiedenen Größen ein Paar in ihren Geschenkewagen.

Ein kuscheliges rosa Nachthemd mit Spitzenrüschen. Davon hatte sie jahrelang geträumt. Jetzt lag es vor ihr. Wie gut würde es ihr wohl stehen? Auch diesen Wunsch erfüllte sie sich.

Ihr Wagen war schon so vollgeladen, dass kaum noch etwas reinpasste. Etwas neidisch blickten ein paar Leute ihr nach, andere lächelten, weil sie erkannten, wie sehr sich diese alte Frau freute.

Der Lautsprecher riss sie aus ihren Gedanken. „Liebe Kunden! Unser Geschäft schließt in fünf Minuten. Wir bitten Sie, die Kassen aufzusuchen.“

„Herta!“, hörte sie Gabriel rufen.

Die alte Frau reckte ihren Kopf und blickte in die Richtung, in der sie Gabriel vermutete. Da sah sie ihn, wie er ihr zuwinkte.

„Komm, Herta, es ist Zeit. Lass den Wagen stehen, Du hast ja jetzt all deine Geschenke eingeladen.“

Und er nahm Herta bei der Hand.

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Sabine Rohm: Hannes Diehsel Weihnachtsmann

Weihnachtsbuch Weihnachtsgeschichten

Weihnachtsgeschichten

Hannes Diehsel Weihnachtsmann
© Sabine Rohm

 
Mein Name ist Lisa. Obwohl ich meiner Meinung nach inzwischen schon ganz schön alt bin, erinnere ich mich gerne an meine Kindheit. Hannes Diehsel war ein Teil davon. Da wir am Rande einer Kleinstadt wohnten, gab es einen Schulbus, der uns zum Unterricht bringen musste. Hannes Diehsel war der Fahrer, stets aufmerksam, zuverlässig und ein väterlicher Freund.

Es war der letzte Schultag vor Weihnachten. Es war klirrend kalt und der Atem gefror beim Sprechen fast schon zu Eis. Wir standen zitternd an der Haltestelle. Pünktlich kam der rote Schulbus. Wir kletterten schnatternd in den geheizten Bus und setzten uns auf unsere Plätze. Hannes Diehsel lächelte uns nachdenklich an. An jenem Tag machte er einen müden und bedrückten Eindruck auf mich. Aber ich dachte nicht länger darüber nach.

Am Abend vor Weihnachten lag ich in meinem Bett und hoffte auf Geschenke, die ich am nächsten Morgen aus den Socken herausfischen würde, die ich am Kamin aufgehängt hatte. Plötzlich hörte ich lautes Gepolter. Niemand in meiner Familie schien etwas gehört zu haben, aber mir standen vor Schreck die Haare zu Berge. Einbrecher oder Weihnachtsmann? Ich saß in meinem Bett und kaute hin und her gerissen an meinen Fingernägeln. Schließlich nahm ich mich zusammen und schlich hinunter ins Wohnzimmer.

Meine Socken hingen noch genau so dort wie ich sie hinterlassen hatte. Aber im Kamin tat sich einiges. Plötzlich ertönte lautes Getöse. Eine pechschwarze Wolke quoll aus der Öffnung und verwandelte mein weißes Nachthemd in eine dunkle Mönchskutte. Ich atmete den Ruß ein und hustete mir die Seele aus dem Leib.

Jemand quetschte sich durch den Kamin. Das konnte kein Einbrecher, das musste der Weihnachtsmann sein! Ich zerrte mit aller Kraft an den Stiefeln. Als endlich die schwarze Gestalt in voller Größe vor mir stand und sich mit müden Bewegungen den Schmutz aus dem Mantel klopfte, sah ich in ein rußverschmiertes Gesicht. – Es war Hannes Diehsel!

Ich schrie auf vor Schreck, schlitterte auf meinen Nachtsocken zur Vitrine und schüttete den besten Whisky meiner Eltern in ein großes Glas. Ich schlitterte zurück, reichte Herrn Diehsel das volle Glas und sah ihn neugierig an. Warum kletterte ein korrekter Schulbusfahrer, verkleidet als Weihnachtsmann, durch unseren Kamin?

Hannes Diehsel nahm das Whiskyglas dankbar entgegen, trank in drei Schlucken das wertvolle Heilmittel und sagte: „Lisa, ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr erschreckt. Mich überfiel mitten in eurem Kamin eine plötzliche Schwäche.“ Er hustete.

„Na ja, Herr Diehsel“, antwortete ich und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Irgendwie sahen Sie in den letzten Tagen auch ein bisschen daneben aus.“

Hannes Diehsel ließ sich in den beigefarbenen Lesesessel meines Vaters plumpsen.

„Wie werde ich morgen die Rußflecken erklären?“, dachte ich und sah auf mein Nachthemd und die schwarzen Fußspuren auf dem hellen Lieblingsteppich meiner Mutter.

„Du wunderst dich, dass ich als Weihnachtsmann durch Kamine klettere?“ Hannes Diehsel blickte nachdenklich auf ein Foto meiner Familie und fuhr fort: „Die Verwandlung vollzog sich zum ersten Mal vor zwanzig Jahren. Es war kurz vor Weihnachten. Ich hatte draußen ein Geräusch gehört und wollte nachsehen, ob mit dem Schulbus alles in Ordnung war. Plötzlich fing der Wagen an zu schaukeln und zu dampfen. Ich dachte, er würde explodieren. Ich trat ein paar Schritte zurück, es gab einen lauten Knall und vor mir stand ein roter Schlitten, gezogen von acht Rentieren. Ich blickte an mir hinunter und konnte es kaum glauben: Ich hatte mich in einen Weihnachtsmann verwandelt! Der Schlitten war vollgepackt mit Geschenken und ich wusste genau, wer sie bekommen sollte. Ich setzte mich in den Schlitten, fuhr von Haus zu Haus, kletterte heimlich durch Kamine und verteilte die Geschenke. Nach getaner Arbeit verwandelten sich der Schlitten und die Rentiere wieder in meinen Schulbus und ich war wieder Hannes Diehsel. So geht es nun schon Jahr für Jahr.“

„Sie sind also der Weihnachtsmann“, stammelte ich.

„Nicht der Weihnachtsmann“, verbesserte er mich lächelnd. „Ein Weihnachtsmann. Bisher habe ich meine Arbeit immer gern getan. Aber mittlerweile ist es ein Fluch“, sagte er und blickte mich traurig an. „Die Menschen wollen immer mehr, werden immer oberflächlicher, begnügen sich nicht mehr mit kleinen Dingen. Die Geschenke müssen immer zahlreicher und immer teurer, größer und wertvoller werden. Wir, die auserwählten Weihnachtsmänner, schaffen diese Masse nicht mehr. Oft bleiben wir in den Kaminen stecken, weil die Pakete zu groß und zu schwer sind.“

Er griff in den Sack, den er neben den Sessel gestellt hatte, und reichte mir einen kleinen Stoffhasen, der ganz oben auf meinem Wunschzettel gestanden hatte. Dann erhob er sich, strich mir über die Haare und sagte: „Frohe Weihnachten, liebe Lisa. Wir sehen uns bei Schulanfang wieder.“

Noch heute steht dieser Stoffhase auf meinem Schreibtisch. Täglich erinnert er mich daran, dass man sich auch an Kleinigkeiten erfreuen kann.

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Weihnachten
Weihnachtsgeschichten
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-9-8

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Elisabeth Graf: In Bethlehem geboren

Weihnachtsbuch Weihnachtsgeschichten

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In Bethlehem geboren
© Elisabeth Graf

 
Heiligabend. Wie jedes Jahr feiern wir im engsten Familienkreis, unter einem großen, reich geschmückten Weihnachtsbaum. Das sanfte Licht elektrischer Kerzen erhellt den Raum und sorgt für die richtige Stimmung. Meine Mutter und meine Schwester begleiten Weihnachtslieder aus dem CD-Player mit der Blockflöte, und mein Bruder, mit seinen zwanzig Jahren manchmal noch immer ein großes Kind, packt ein Computerspiel nach dem anderen aus. Mein Vater sitzt still auf dem Sofa und streichelt den Hund, der zufrieden schnarchend neben ihm liegt und Weihnachten Weihnachten sein lässt.

Ruhe und tiefe Zufriedenheit erfüllen mich, während ich vor dem Baum auf dem Boden knie, das Spiel der Lichter auf den roten, goldenen und silbernen Christbaumkugeln betrachte und in die strahlenden Gesichter von Maria, Josef und den Hirten in der alten Holzkrippe schaue.

Das Schellen der Türglocke reißt mich aus meiner Versunkenheit. Der Hund springt auf und rast wild bellend zur Wohnzimmertür.

„Wer kommt denn jetzt?“, wundert sich meine Mutter. „Um halb zehn am Heiligen Abend?“

„Ich gehe nachsehen“, biete ich an.

Als ich die Haustür öffne, fegt mir ein eisiger Windstoß entgegen. Mein Atem bildet kleine Wölkchen vor meinem Gesicht. Niemand ist zu sehen. Aber im Licht der Straßenlaterne erkenne ich Fußspuren, die von der Straße her über unseren Hof zur Haustür und wieder zurück führen. Voller Ärger über den billigen Scherz möchte ich ins Haus zurückkehren, da fällt mein Blick auf ein Päckchen, das in buntes Geschenkpapier eingewickelt ist. Ich hebe es auf, drehe und wende es. Doch ich finde weder einen Absender noch eine Anschrift.

„Wer war das?“, will mein Vater wissen, als ich ins Wohnzimmer zurückkehre.

Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung! Aber er hat das hier gebracht.“ Und ich halte das Päckchen hoch.

Meine Schwester macht große Augen. „Für dich?“, fragt sie neugierig.

Wieder kann ich nur mit den Schultern zucken. „Ich weiß nicht. Es steht nichts darauf.“

Ich setze mich aufs Sofa, schiebe den Hund beiseite, der das Päckchen beschnuppern möchte, reiße das Geschenkpapier auf, und als ich den Karton öffne, kommt das Geschenk zum Vorschein. Einen Moment lang bin ich ratlos. Dann erst geht mir ein Licht auf.

Natürlich: Weihnachten vor fünf Jahren …

*

Sie hieß Rania – wie die Königin von Jordanien. Und sie war auch schön wie eine Prinzessin: ein bezauberndes kleines Mädchen von acht Jahren mit haselnussbraunen Augen und dunklem, gelocktem Haar, das voll und glänzend auf ihre Schultern fiel.

Rania gehörte zu einer palästinensischen Familie, mit der ich immer noch eng befreundet bin. Sie lebte mit ihren Eltern und acht älteren Geschwistern in einer viel zu engen Wohnung am Rand unseres Dorfes.

Rania war ein kleiner Sonnenschein, immer bester Laune, voller Energie und Tatendrang.

Daher erstaunte es mich, dass ich sie eines Tages kurz vor Weihnachten still am Küchentisch sitzend antraf.

Eine Weile unterhielt ich mich mit ihren Geschwistern und beobachtete sie dabei verstohlen aus den Augenwinkeln.

Wir lachten viel. Aber Rania, die eigentlich nichts lieber tat als lachen, beteiligte sich nicht daran. Auch begrüßt hatte sie mich nur kurz und flüchtig, während sie sich mir sonst wie ein kleines Äffchen an den Hals warf und munter drauflos plapperte.

Wie ein Häufchen Elend kauerte sie auf ihrem Stuhl und starrte vor sich hin.

„Was ist los mit dir, Rania?“, fragte ich besorgt.

Die Kleine antwortete nicht. Sie hob nicht einmal den Blick, zuckte nur mit den Schultern.

„Wir wissen nicht, was sie hat“, erklärte mir Ibrahim, ihr Bruder. „Aber seit ein paar Tagen ist sie wie ausgewechselt.“

Die Mutter stellte eine Tasse dampfenden Tee vor mich hin. „Ich mache mir Sorgen um das Kind“, sagte sie in ihrem gebrochenen Deutsch und strich ihr langes, dunkles Haar zurück. Vor mir trug sie es offen. Aber sobald ein Mann das Haus betrat, der nicht zum engsten Familienkreis gehörte, verbarg sie es unter einem Kopftuch. „Rania spricht kaum noch. Irgendetwas bedrückt sie, aber sie erzählt es mir nicht.“

Eine Rania, die nur noch stumm in der Ecke saß? Das hörte sich tatsächlich nicht gut an. Ich wandte mich an das Mädchen, obwohl ich kaum Hoffnung hatte, dass es mir mehr anvertrauen würde als seiner Familie: „Hast du Probleme in der Schule?“

Zu meiner Überraschung hob Rania den Kopf, und als ich in ihre dunklen Augen sah, wurde mir erneut bewusst, wie sehr ich an diesem Kind hing.

„Wann ist Weihnachten?“, erkundigte es sich mit dünner, zitternder Stimme.

„In zwei Tagen“, antwortete ich leicht verwirrt.

„Feierst du das?“, wollte sie wissen.

„Ja.“

Ranias Augen füllten sich mit Tränen. „Du hast es gut“, presste sie hervor. „Ich will auch Weihnachten feiern!“

„Unsinn, Rania!“, mahnte ihre Mutter streng. „Weihnachten feiern nur die Christen.“

Rania schluchzte etwas auf Arabisch, das den Rest ihrer Familie nach Luft schnappen ließ, schlug die Hände vors Gesicht und begann hemmungslos zu weinen.

Mir tat es weh, sie so zu sehen. Ich trat neben sie und schloss sie fest in die Arme.

„Was hat sie gerade gesagt?“, wandte ich mich an den Rest ihrer Familie.

„Dass sie Christin werden will“, murmelte die Mutter. Ihre Stimme bebte vor Empörung.

Für einen Moment schwieg ich betroffen. Ich spürte, dass ich mich auf dünnem Eis befand. Auf keinen Fall durfte ich den Eindruck erwecken, als wollte ich Rania in Sachen Religion beeinflussen. Sonst bestand die Gefahr, dass ich die Sympathie ihrer Familie verlor. Obwohl uns kulturell Welten trennten und sie von meiner Lebensweise manches genauso wenig verstanden wie ich von der ihren, bedeutete mir diese Freundschaft viel.

„Warum möchtest du denn Christin werden, Rania?“, fragte ich. „Du hast doch deinen eigenen Glauben.“

„Weil ich auch Weihnachten feiern will!“ Sie schluchzte nun derart heftig, dass es meinen ganzen Körper schüttelte, während ich sie festhielt.

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Sigrid Wohlgemuth: Eis und heiss

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Eis und heiß
© Sigrid Wohlgemuth

 
Die Hofeinfahrt war spiegelglatt.

„Halt!”, schrie Stefanie. Sie rannte hinter der weißen Gestalt her, kam ins Schlittern und fiel der Länge nach in den Schnee. „Verdammt!”, schimpfte sie.

Ein Streuwagen fuhr gerade an ihrem Haus vorbei. Der Mann hinter dem Steuer hupte und winkte ihr grinsend zu. „Blödmann!“, ging es ihr durch den Kopf. „Hoffentlich hat mich wenigstens der neue Nachbar nicht beobachtet.“

Im selben Augenblick trat Denis aus dem Haus. Sein Bernhardiner Hector zog ihn über die vereiste Einfahrt. Denis geriet ins Rutschen und landete direkt neben Stefanie auf dem Hosenboden. Hector leckte abwechselnd ihre und seines Herrchens Wangen.

„Fehlt nur noch, dass der Hund ein SOS-Fass um den Hals trägt“, dachte Stefanie. Dann blickte sie in Denis’ dunkelgrüne Augen und sah, wie sich kleine Eiskristalle an den feuchten Wimpern bildeten. Das fand sie komisch und fing aus vollem Hals an zu lachen.

„Schauen Sie”, flüsterte Denis und zeigte mit der Hand in Richtung Straße.

Da sah Stefanie, dass sich einige Passanten vor dem Grundstück aufgebaut hatten und sie amüsiert beobachteten.

Stefanie und Denis rappelten sich auf. Vorsichtig machte Stefanie einen Schritt nach vorne und verlor erneut das Gleichgewicht. Mit einer Hand griff sie nach Denis’ Anorak und riss ihn mit sich auf den schneebedeckten Boden. Hectors Leine wickelte sich um ihre Fußgelenke.

Die Schaulustigen klatschten lachend Beifall.

Denis entwirrte die Hundeleine und half seiner jungen Nachbarin aufzustehen.

Stefanie blickte die Straße hinauf und hinunter, doch die weiße Gestalt war nicht mehr auszumachen.

„Suchen Sie etwas?”, fragte Denis und klopfte sich den Schnee von der Hose.

„Da war vorhin ein G… Ach, nichts. Mir ist kalt.” Ihre Zähne klapperten.

Denis blickte sie besorgt an.

„Ich brauche jetzt ein heißes Bad.” Stefanie ging mit vorsichtigen Schritten auf ihr Haus zu.

Denis winkte zum Abschied und schlitterte langsam die vereiste Einfahrt entlang bis zum Bürgersteig.

Eiligen Schrittes ging Stefanie in die Küche, schob die Gardine zur Seite und schaute auf die Straße. Die Allee war menschenleer. Sie schüttelte den Kopf. „Was war das bloß, was ich vorhin an meinem Fenster vorbeihuschen sah?“

Im Badezimmer öffnete sie den Wasserhahn, hielt die Finger darunter und hatte auf einmal einen kleinen Eiszapfen in der Hand. Erschrocken ließ sie ihn fallen. Es klirrte, als er in der Wanne landete. Stefanie hielt wieder die Hand unter den Kran. Dieses Mal war es ein winziger Eisball, der in ihre Handfläche kullerte. Sie drehte an den Armaturen, doch es änderte sich nichts. Immer wieder kamen neue Eisfiguren zum Vorschein. Auch am Waschbecken klapperte nur Gefrorenes aus der Leitung.

„Was ist hier los?”, fragte sie sich und betätigte die Spülung der Toilette. Unzählige Eiskristalle purzelten aus dem Wasserkasten.

Auf einmal spürte sie die Kälte, die im Haus herrschte. „Oh, bitte keine kaputte Heizung!“

Stefanie stieg in den Keller hinunter. Die Heizung war abgestellt. Sie drückte den roten Knopf und das Gerät sprang wieder an. „Ein Glück!”, murmelte sie erleichtert.

Da nahm sie im hinteren Kellerraum leises Geraschel wahr. Es hörte sich an, als würde jemand verzweifelt nach etwas suchen.

Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür, spähte um die Ecke und hielt vor lauter Schreck die Luft an. Ein Schneemann durchwühlte gerade ihren alten Kleiderschrank. Mucksmäuschenstill presste sie sich an die Wand und beobachtete den sonderbaren Eindringling. Als er einen langen, roten Schal und eine Skimütze hervorzog, konnte Stefanie ihre Neugierde nicht länger zügeln. Obwohl ihre Beine vor Angst schlotterten, trat sie auf den seltsamen Gast zu. „Was machen Sie da?” Fast wäre ihr die Stimme weggeblieben.

Der Schneemann fuhr herum.

„Wieso haben Sie sich als Schneemann verkleidet, meine Heizung abgestellt und sind in meinen Keller eingebrochen?”, fragte Stefanie, die ihre Stimme wiedergefunden hatte.

Er räusperte sich. „Äh …”, hob er an, „das ist kein Kostüm.“ Dann bückte er sich, löste ein wenig Schnee aus seinem unteren runden Teil und reichte ihn Stefanie.

Es fühlte sich echt an.

„Und … das …?”, stotterte sie und deutete auf die Kleidungsstücke.

„Ihr Nachbar hat vergessen, mich fertigzustellen“, erklärte der Schneemann.

„Sie meinen Denis?”

„Er hat mich im Morgengrauen im hintersten Winkel seines Gartens gebaut und darauf geachtet, dass keiner ihn dabei beobachtet. Einmal hat er etwas gemurmelt. Ich glaube, er sagte: ‘Ich bin zu alt zum Schneemannbauen. Nicht auszudenken, wenn Stefanie mich erwischen würde!’“

„Das hat er gesagt?”

Der Schneemann nickte. „In Denis’ Haus kam ich nicht hinein, der hat seine Tür abgeschlossen, darum bin ich bei Ihnen über die Terrasse …”

„Jetzt verstehe ich! Ich habe Sie gesehen. Und ich dachte, Sie wären ein Gespenst … Bin rausgerannt und hingefallen und hab mich vor Denis blamiert.”

Der Schneemann rollte mit den Kohlenaugen. „Ich verstehe Sie und Denis nicht. Warum haben Sie beide dauernd Angst, sich vor dem anderen lächerlich zu machen?” Doch er ließ ihr keine Zeit, darüber nachzudenken. „Darf ich mir diese Sachen ausborgen?“, fragte er. „Hier ist es viel zu heiß. Ich muss so schnell wie möglich in den Garten zurück, und dort möchte ich schließlich nicht völlig nackt herumstehen.“

Erst jetzt bemerkte Stefanie, dass es von seiner Stirn tropfte. Schnell stellte sie die Heizung wieder aus.

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Irene Komoßa-Scharenberg: Fest der Gefühle

Weihnachtsbuch Weihnachtsgeschichten

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Fest der Gefühle
© Irene Komoßa-Scharenberg

 
Schon seit Wochen stand die etwas zu krumm geratene Tanne in der Eingangshalle unseres Altenheims, behängt mit grellbunten Kugeln und einer Überdosis an goldenem Lametta. Ich mochte lieber silbernes oder überhaupt keines.

Die Schwestern hasteten mit einem merkwürdigen Grinsen herum. Es fiel nur aus ihrem Gesicht, wenn jemand ins Bett gemacht hatte.

„Bald ist es so weit”, posaunten sie, als ob wir auf Weihnachten warten würden wie kleine Kinder.

Selbst Martha erzählten sie es immer wieder. Dabei verstand die sowieso nichts. Wir sollten uns freuen. Auf Kommando. Zumindest den Stoßtrupps von draußen zuliebe. Wohlmeinende Delegationen überschütteten uns im Advent mit Gebäck und Gesang – und verschwanden wieder, noch ehe wir ihre Überfälle verarbeitet hatten.

„Bald ist es so weit”, raunte mir auch Schwester Elfriede zu. Die mochte ich von allen am liebsten.

„Ja, bald”, antwortete ich, um sie nicht zu enttäuschen.

Traurig schaute ich in die andere Richtung. Nur noch drei Tage und ich hatte noch nichts von Charlotte gehört. Auch nicht von Lutz, erst recht nicht von Rüdiger. Wahrscheinlich war es ihnen peinlich, ihre Festtagspläne offenzulegen. Zumindest Charlotte. Sie war schon als Kind so sensibel.

Während ich grübelte, schlich die verwirrte Martha den Gang entlang. Unaufhörlich wackelte sie mit dem Kopf, als wäre der nicht richtig angewachsen. Ihr Mund murmelte unverständliche Worte. Manchmal glaubte ich, ihr Geist würde irgendwo jenseits von Hoffnung und Angst leben. Jenseits der Angst, wie verlockend. Dennoch will niemand dort leben.

Plötzlich klingelte ein Telefon. Aufgeregt stürzte ich in mein Zimmer.

„Hallo, Mama, hier Charlotte!”

Mir verschlug es die Sprache. Charlotte, Charlotte! Alles drehte sich in meinem Kopf. Hoffen und Bangen tanzten Ringelreihen. Doch dann schlich die Hoffnung sich auf leisen Sohlen davon. Gewissheit hatte ich mir gewünscht, selbst wenn sie kleine Löcher in meine Seele brennen würde. Jetzt hätte ich am liebsten aufgelegt, nur um an der Hoffnung festzuhalten. Zumindest kurz, ganz kurz nur. Dabei hatte mir der Klang von Charlottes Stimme schon alles verraten.

„Mama”, fragte sie, „bist du noch dran?”

„Ja, Charlotte”, antwortete ich möglichst gefasst. Für Gefühlsausbrüche blieb später noch Zeit.

„Ich rufe an wegen Weihnachten.”

„Wegen Weihnachten”, echote ich, um meine Erregung nicht zu verraten. Etwas Besseres fiel mir nicht ein.

„Wir haben Gäste”, sagte sie zögernd, „gute Bekannte. Ich besuche dich dann nach den Feiertagen.”

Hastig verabschiedete ich mich und ging hinaus zu Martha.

„Bald, bald, bald”, plapperte sie vor sich hin. Vielleicht freute sie sich doch, vielleicht mehr als manch anderer hier.

Während ich mit den Tränen kämpfte, wetzte Schwester Gertrud den Gang entlang, eine Ansichtskarte in der Rechten.

„Urlaubsgrüße von Ihrem Sohn”, rief sie mir entgegen. Das Postgeheimnis galt hier nicht.

Tatsächlich, Rüdiger schrieb mir aus Thailand. Nach Neujahr wollte er zurückkehren. „Die Weihnachtsgrüße hat er vergessen“, dachte ich und wackelte mit dem Kopf wie die verwirrte Martha.

Besorgt musterte mich Herr Klemm, der einzige Mann auf unserer Station. „Ick bin ein Berliner”, teilte er mir mit. Dabei wusste jeder, dass er aus dem Sauerland stammte. Meist sprach er überhaupt nicht. Doch er spürte immer, wenn jemand traurig war.

Im Festsaal brannten sicher schon die Kerzen. Der Organist stimmte die alte Hausorgel ein. Nüchterne Atmosphäre wich einem Hauch froher Erwartung. Mutig kämpfte ich alle Enttäuschung nieder. Mochte nicht zulassen, dass negative Gefühle sie verdrängten. Mochte nicht zulassen, dass Hoffnung so verloren wirkte wie der mit Lametta behängte Weihnachtsbaum in der Eingangshalle. Bewusst zog ich mein bestes Kleid an, um damit ein Zeichen zu setzen. Ein letzter Blick in den Garderobenspiegel, dann wollte ich aufbrechen.

Doch ehe meine knochige Hand das kalte Metall der Türklinke berührte, steckte Lutz den Kopf herein. Lutz, mein Jüngster, immer noch mit der ungepflegten Hippiefrisur. Doch die Haare waren jetzt unwichtig.

„Bin auf dem Sprung”, begrüßte er mich mit scheuem Augenaufschlag. Diesen Blick kannte ich nur zu gut. Früher hatte er damit stets um Nachsicht gebeten.

„Wir sind auf dem Weg in den Wintersport”, fuhr er fort. „Die Kumpels sitzen schon im Wagen. Aber ich wollte dir noch schnell frohe Weihnachten wünschen.”

„Verstehe”, entgegnete ich knapp und wandte mich ab. Meine Stimme klang fremd und irgendwie emotionslos. Zumindest passte sie zu den herben Gesichtszügen, die mir aus dem Spiegel entgegenblickten. Längst war der Anflug eines freudigen Lächelns verschwunden.

Lutz zog die Linke hinter seinem Rücken hervor, hielt mir einen Kalender mit frommen Sprüchen hin. Fromme Sprüche für jeden Tag, wie passend! Mit einem Seufzen humpelte ich zum Kleiderschrank. Im Wäschefach lagen die hübsch verpackten Geschenke für Kinder und Enkel, auch „Berge im weißen Gewand”. Mit gemischten Gefühlen überreichte ich Lutz den Bildband. Ich hatte lange danach gesucht. Hastig nahm er ihn entgegen. Hinein schaute er nicht.

„Bis dann”, verabschiedete er sich, wie eingangs mit scheuem Blick.

Flüchtig berührte ich sein langes Haar. Spürte die Berührung noch in den Fingerspitzen, als längst eilige Schritte in meinen Ohren widerhallten.

Während meine Stirn sich langsam vom Türrahmen löste, sangen sie unten „O du fröhliche”

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Bernadette Reichmuth: Wer glaubt denn schon an Engel!

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Wer glaubt denn schon an Engel!
© Bernadette Reichmuth

 
Hey Leute, weiß einer von euch vielleicht, wie Engel aussehen?

Also, wenn sie tatsächlich mit weißen Nachthemden und Hühnerflügeln durch die Weltgeschichte flattern, kriege ich echt die Krise. Aber vielleicht sehen so die Engel für die alten Leute aus, vielleicht hängt darum so ein Bild bei meiner Oma über dem Sofa. Einen Alte-Leute-Engel kann ich aber nicht brauchen. Ich brauche einen Kinder-Engel. Nein, nicht für mich. Ich bin schließlich schon fünfzehn. Den Engel brauche ich für meinen kleinen Bruder.

Er hat Krebs und wird bald sterben.

Ich muss mich beeilen. In fünf Wochen wird er sechs. Und es sieht nicht so aus, als ob er seinen Geburtstag noch erleben wird.

In zwei Wochen ist Weihnachten. Mit ein bisschen Glück schafft er es wenigstens noch bis dahin.

Scheißweihnachten!

Niemand weiß genau, wann es angefangen hat mit der Krankheit bei Krümel.

Krebs ist so ziemlich das Gemeinste, was es gibt. Besonders für kleine Kinder. Er schleicht sich heimlich in den Körper, nistet sich in irgendeiner versteckten Ecke ein und fängt an, Leben wegzufressen, ohne dass jemand was merkt. Wenn man ihm dann endlich auf die Schliche kommt, ist es meist schon zu spät. Dann hat er seine verfluchte Brut längst überall verteilt.

Klar wird nun sofort das volle Arsenal aufgefahren, um dem Krebs so richtig in den Arsch zu treten und ihn kleinzukriegen, Chemie, Bestrahlung, Operation, die ganze Medizinkacke eben. Aber der Krebs lässt sich nicht so einfach in den Arsch treten. Während an einer Stelle aus allen Rohren gefeuert wird, verschiebt er seine Truppen einfach weiter in ein noch nicht befallenes Gebiet. Es ist ein beschissener Krieg. Sein Schauplatz ist diesmal der Körper von Krümel, meinem kleinen Bruder. Und der Ausgang der letzten Schlacht ist bereits entschieden.

Habe mich während der letzten Monate manchmal gefragt, was schlimmer ist: das Arsenal der Medizin oder der Krebs. Spielt eigentlich keine Rolle. Nicht für diejenigen, die verlieren.

Wir haben nie gebetet bei uns zu Hause, Mam nicht, ich auch nicht. Doch ich weiß, dass Krümel gebetet hat. Schon als kleiner Knirps hat er gebetet. Oma hat es ihm beigebracht. Unsere gute Oma.

Nachdem mein kleiner Bruder zum dritten Mal ins Krankenhaus musste, habe auch ich angefangen zu beten. Na ja, ein richtiges Gebet war das nicht gerade, so mit lieber Gott, ich bitte dich, und so. Nein, ich habe dem Typen ziemlich deutlich die Meinung gesagt. „Hey“, hab ich gesagt, „falls es dich überhaupt gibt, warum suchst du dir für deine Spielchen nicht einen dieser Ärsche aus, die haufenweise in der Weltgeschichte herumtrampeln, und lässt dafür meinen kleinen Bruder in Ruhe? Was bist du eigentlich für einer? Wozu brauchst du kleine Kinder, die keinem was getan haben?“

Gott interessierte sich nicht für meine Meinung. Warum sollte er auch?

Aber kann mir einer sagen, warum er sich nicht um die Gebete meiner Oma und meines kleinen Bruders gekümmert hat? Warum hat er zugeschaut, wie der kleine Kerl bis über die Ohren mit Chemie vollgepumpt und mit Strahlen beinahe zerschossen wurde? Warum musste er zu guter Letzt noch eine fürchterliche Operation über sich ergehen lassen, und das alles für nichts, nichts und wieder nichts?

Am liebsten hätte ich dem Typen eine vor den Latz geknallt. Aber versucht mal, jemandem eine reinzuhauen, wenn der unsichtbar ist oder es ihn vielleicht nicht einmal gibt.

Krümel wurde immer blasser, durchsichtiger – und ruhiger.

Und dann knallte er mir eines Abends mit seiner kaum noch hörbaren Stimme eine Frage um die Ohren, die mich echt vom Hocker haute. Das war, während ich sein Nachtessen verdrückte. (Er selbst brachte seit Wochen kaum noch was runter.) „Johnny, sag mal, glaubst du an Engel?“

Ich bekam einen Hustenanfall.

Nachdem ich fertig gehustet hatte, hauchte er: „Mam sagt, es gibt keine, das wär’ was für ganz kleine Kinder, so wie der Osterhase oder der Weihnachtsmann. Glaubst du, dass sie …“ – er riss die Augen auf – „… lügt?“

Ich war völlig entgeistert.

„Spinnst du?“, stieß ich schließlich hervor. „Warum sollte Mam lügen?“

Krümels kleines Gesicht wurde rosa vor Eifer. „Der Pfarrer sagt, Engel gibt es. Ein Mädchen hier betet jeden Abend zu einem … einem Schutzengel.“ Und nach einer Weile nachdenklich: „Kann ich das auch? … Zu einem Schutzengel beten, meine ich.“

Komische Ideen entwickelte der Kleine plötzlich. Ob das an dem Weihnachtskram lag, der hier überall rumhing? Glitzerkugeln, künstliches Tannengrün, Weihnachtsmänner – und jede Menge Engel. Merkwürdig, irgendwie kamen sie mir passend vor, die vielen Engel, hier auf der Station der todkranken Knirpse. Fragt mich nicht, warum.

Aber Krümels Frage war schon schwierig. Woher sollte ausgerechnet ich wissen, ob es Engel gibt? Ich weiß ja noch nicht einmal, ob es Gott gibt.

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Ingrid Linnenberger: Bitte, nur heute!

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Bitte, nur heute
© Ingrid Linnenberger

 
Er hat es mir versprochen. Kein Alkohol an Heiligabend. Er wird sich daran halten. Er weiß, wie wichtig mir ein ruhiges und friedvolles Weihnachtsfest ist. Wenigstens an Heiligabend.

Die Kinder sind aufgeregt und können es kaum erwarten. Er kümmert sich liebevoll um sie und spielt mit ihnen. Ich bin in der Küche und pelle die Kartoffeln für unseren traditionellen Kartoffelsalat.

Ich bin sehr angespannt. Es ist jetzt 14 Uhr und er hat sich bis jetzt an unsere Abmachung gehalten. Ich bereite die Salatsoße vor und, verdammt noch mal, ich kann mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Ich lege das Salatbesteck zur Seite und husche ins Wohnzimmer; nur mal schnell nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Es ist schön anzuschauen und ich spüre ein Kribbeln im Bauch, freue mich darauf, meine Familie dort sitzen zu sehen und mitzuerleben, wie sie in ihr Spiel vertieft ist.

Ich kümmere mich wieder um die Zubereitung des Kartoffelsalates und schalte das Radio in der Küche an. Es erklingen leise Töne, Weihnachtslieder, und ich ertappe mich dabei, wie ich hier und da die bekannten Melodien mitsumme. So, der Salat ist fertig und ich stelle ihn in den Kühlschrank.

Unsere Kinder kommen in die Küche und erzählen, dass sie jetzt mit Papa den Weihnachtsbaum reinholen und aufstellen. Er steht in der Tür und lächelt mich an. Ich erwidere sein Lächeln und gebe mir Mühe, so locker wie möglich zu wirken. Es wird gut gehen.

Die Kinder laufen nach draußen und er folgt ihnen. Ich beobachte sie durch das Fenster. Der Weihnachtsbaum ist wunderschön. Unsere Kinder bringen den Baumständer und stellen ihn auf. Sie lachen, reden und er erklärt ihnen, wie er nun vorgehen wird. Aufmerksam hören sie zu und folgen seinen Anweisungen.

Es ist jetzt 16 Uhr und ich bin nicht fähig, mich auf das Fest zu freuen.

Sie schleppen den Baum in das Wohnzimmer. Wir überlegen gemeinsam, wie wir ihn drehen sollen. Danach bringt er aus dem Abstellraum den Baumschmuck. Die Kinder stürzen sich auf die Kugeln und beginnen, den Baum zu schmücken.

Jetzt ist der Baum fertig geschmückt und nur die Lichterkette muss noch überprüft werden. Das ist seine Aufgabe. Gewissenhaft schaut er nach, ob alles in Ordnung ist, ob die Birnchen noch funktionieren. Da steht ein wunderschöner Weihnachtsbaum! Schnell wird die Lichterkette wieder ausgeschaltet. Nun ist es bald so weit.

Ich muss wieder in die Küche, und er liest den Kindern eine Weihnachtsgeschichte vor. Noch immer ertönt leise Weihnachtsmusik aus dem Radio. Ich räume auf und überlege, wie ich nachher alles organisieren muss, sodass die Kinder von der Hektik der Vorbereitungen nichts mitkriegen.

Ich höre, dass der Fernseher eingeschaltet wurde.

Dann kommt er in die Küche und fragt, ob er mir helfen kann, die Kinder seien beschäftigt. Rieche ich da Alkohol? Wir besprechen, wie wir nachher verfahren werden, mit den Geschenken, dem Essen, ob vorher oder nachher …

Es ist jetzt fast 18 Uhr. Er überredet die Kinder, mit nach oben zu gehen, und ich beginne mit den Vorbereitungen. Ich verteile die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum, decke den Tisch, dekoriere noch, stelle die Krippe auf.

Im Schrank stehen die Flaschen: Wein, Spirituosen. Ich will die Servietten nehmen und mir fällt direkt auf: Da stimmt was nicht. Mir wird heiß. Es fehlt eine Flasche Wein. Ich gehe in die Küche und schaue nach. Der Flaschenöffner ist weg. Ich falle auf den Stuhl und lasse meinen Tränen freien Lauf. Nach einiger Zeit beruhige ich mich wieder und wasche mein Gesicht mit kaltem Wasser. Die Kinder sollen ein schönes Fest haben.

Er hat es doch versprochen. Ich gehe nach oben und schaue ihn an. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck genau. Er hat es versprochen und ich kann nichts tun.

Es ist jetzt fast 19 Uhr.

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Norbert Sindelek: Der Weihnachtspinguin

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Der Weihnachtspinguin
© Norbert Sindelek

 
Ich bin der Weihnachtspinguin.

Du fragst, wer das sein soll, der Weihnachtspinguin? – Na, der Pinguin, der zu Jesu Geburt den Stall besucht hat, gemeinsam mit den Engeln, Hirten und Königen, den Schafen, Kamelen, Hirtenhunden, dem Elefanten und so weiter.

Du glaubst mir nicht? Typisch!

Jedes Jahr zu Weihnachten versuche ich, die Menschen davon zu überzeugen. Zu Weihnachten können ja bekanntlich die Tiere reden. Wobei wir Tiere eher der Ansicht sind, an diesem Tag könnten die Menschen ausnahmsweise mal verstehen, was wir Tiere reden, aber egal, es nützt mir eh nichts. Jedes Jahr stoße ich auf taube Ohren oder, noch schlimmer, auf mitleidiges Kopfschütteln. So eine Gemeinheit. An den Ochsen und den Esel glaubt jeder, dabei steht von denen auch kein Wort in der Bibel. Aber mit den Pinguinen kann man’s ja machen.

Dabei waren wir Pinguine immer schon aufmerksame Zeugen von Gottes Wirken. Zum Beispiel damals, als er dem alten Noah auftrug, uns und alle anderen Tiere in seine Arche zu packen und vor der Sintflut zu retten. Nicht, dass das nötig gewesen wäre, wir Pinguine können mindestens genauso gut schwimmen wie jede Arche, aber na ja, Gottes Wege sind unergründlich, wie man sagt.

Doch als die Arche dann auf dem Berg Ararat strandete, standen wir erst einmal ratlos da, denn der Ararat liegt bekanntlich in der Türkei, in Kleinasien, wie das früher hieß. Und das ist vom Südpol, wo wir eigentlich hingehören, ziemlich weit weg. Erst recht, wenn man ein Vogel ist, der gar nicht fliegen kann. Manchmal frage ich mich, wozu Gott uns überhaupt Flügel gegeben hat, aber na ja, Gottes Wege … ich hab’s ja schon gesagt.

Auf jeden Fall gab es nach der Sintflut ein paar tausend Jahre lang eine Pinguinkolonie mitten in Kleinasien. Bis wir eines Tages vor ungefähr zweitausend Jahren beschlossen, dass es dort eindeutig zu warm für Pinguine ist. Wir entschieden uns, durch Galiläa ans Rote Meer zu watscheln und dann bis zum Südpol zu schwimmen. Damit uns nicht zu heiß wurde, waren wir nur nachts unterwegs. Und in einer Nacht, in der die Sterne besonders hell schienen und ein ganz außergewöhnlicher Stern am Himmel strahlte, kamen wir an einen Ort, wo für diese späte Stunde ganz schön viel Betrieb war. Schafherden und Kamelkarawanen, Esel und Menschen zogen an uns vorbei.

Da wir Pinguine weder groß noch besonders gut zu Fuß sind und nicht von irgendwem über den Haufen gerannt werden wollten, schickten mich die anderen voraus, um den Weg auszukundschaften.

Bald entdeckte ich, dass all diese Wanderer sich an einer Stelle zusammenfanden, wo ein kleiner, baufälliger Stall stand. Eigentlich nicht sehr einladend, aber als ich in seine Nähe kam, zog er mich magisch an. Ich musste unbedingt sehen, was dort los war. Doch eigentlich war dort gar nichts los. Ein kleines Menschenküken lag in der Futterkrippe und alle anderen standen nur drum herum und schauten es an. Aber wie sie schauten! Alle blickten glücklich und zufrieden drein und wirkten, als könnten sie nie wieder irgendjemandem etwas Gemeines antun. Auch mir wurde ganz warm ums Herz. Aber – ich glaube ich erwähnte es bereits – wir Pinguine sind eher klein und ich konnte nicht viel sehen. Also drehte ich mich um und wollte zu meinen Kollegen zurückgehen.

Dann aber sah ich ein Stück von dem Stall entfernt ein paar merkwürdige Wesen sitzen. Sie sahen fast aus wie Menschen in Nachthemden, aber sie hatten weiße Flügel und schienen auf merkwürdige Art zu schimmern.

„Friede auf Erden und den Pinguinen ein Wohlgefallen“, wünschte mir einer von ihnen. „Komm her zu uns, Pinguin. Fürchte dich nicht.“

„Ich fürchte mich doch gar nicht“, antwortete ich und watschelte auf die Gruppe zu.

„Ja, ich weiß. Aber wir Engel sagen das immer, nur zur Sicherheit.“

„Was macht ihr hier?“

„Wir ruhen uns ein bisschen aus. Weißt du, wir mussten heute schon ganz schön viel jubilieren und lobpreisen und solche Sachen. Und einen Stern an die richtige Stelle schieben. Das ist sogar für Engel anstrengend. Unserem Herrn wäre das bestimmt leichter gefallen, der ist immerhin allmächtig. Aber du weißt wahrscheinlich, wie das mit Gottes Wegen so ist.“

„Ja, wir Pinguine haben Erfahrung damit. Aber wozu denn der ganze Aufwand?“

„Dort drüben ist gerade Jesus, der Sohn Gottes, geboren worden.“

„Ach, wirklich? Das freut mich.“

„Aber das Wichtigste kommt erst.“

„Und was ist das?“

„Erinnerst du dich an das Gefühl, das du hattest, als du das Kind gesehen hast?“

„Ich fühlte mich ganz friedlich. Und es kam mir plötzlich sehr dumm vor, dass ich mich jemals mit anderen Pinguinen gestritten habe. Ich hatte das Gefühl, es wäre viel besser, in Zukunft alle Pinguine zu mögen und nett zu ihnen zu sein.“

„Richtig“, sagte der Engel. „Wenn das Kind groß ist, wird es viele Dinge sagen und tun, die den Leuten dieses Gefühl geben. Und die Leute werden dann dasselbe tun. Sie werden die Botschaft von Frieden und Liebe über die Welt verbreiten. Ach ja, da der Südpol ein wenig abgelegen ist, könnte es ein bisschen dauern, bis sie auch dorthin gelangt. Könntest du das vielleicht übernehmen?“

„Aber es wird mir keiner glauben, dass ein Pinguin bei Jesu Geburt dabei war.“

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… wie diese witzige Geschichte weitergeht, erfährst Du in dem Buch
Weihnachten
Weihnachtsgeschichten
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-9-8

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Enrico Andreas Brodbeck: Eine moderne Weihnachtsgeschichte

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Weihnachtsgeschichten

Eine moderne Weihnachtsgeschichte
© Enrico Andreas Brodbeck

 
„Pah“, stieß Karl hervor, „ich und Weihnachten feiern – da müsste ich ja bekloppt sein! Dieses Jahr kann Weihnachten feiern wer will, aber ohne mich. Was ist denn schon vom traditionellen Weihnachtsfest übrig geblieben? In den Wochen zuvor werden die Weihnachtslieder in allen Variationen vorwärts und rückwärts abgedudelt, die Geschäftsleute versuchen, mit ihren Verkaufszahlen ins Guinnessbuch der Rekorde zu kommen und die Kids sind völlig durch den Wind, weil sie gar nicht mehr wissen, was sie sich vor lauter Überfluss noch wünschen sollen.“

Karl holte tief Luft, blickte in die Runde seiner Kollegen und wartete auf eine Reaktion.

„Tja, Alter, so wie früher wird es nie wieder werden. Weihnachten, wie du es als Kind erlebt hast, schmierst du dir am besten von der Backe. Die Zeiten sind ein für allemal vorbei.“ Rudi legte die Füße auf den Schreibtisch und wippte mit seinem Drehstuhl.

„Ja, früher war eben alles anders, besinnlicher“, fügte eine Kollegin hinzu. „Da gab es noch weiße Weihnachten. Heute ist alles grau in grau. So wie das Wetter, so ist auch die allgemeine Stimmung. Trotzdem möchte ich nicht auf Weihnachten verzichten. Es ist eine alte Tradition, und Traditionen muss man pflegen.“

„Kommst du an Heiligabend wieder zu uns rüber?“, fragte Rudi.

Karl richtete sich auf und strahlte über das ganze Gesicht. „Nein, Rudi, dieses Jahr weigere ich mich, Weihnachten in alter Manier mitzufeiern. Dieses Jahr mache ich etwas ganz anderes. Über die Feiertage fahre ich in die Schweiz. Eine Woche vor Weihnachten besteige ich den Zug von Essen nach Chur. Von dort aus fahre ich einen Tag später auf einer der schönsten Bahnstrecken der Welt, nämlich mit dem Bernina Express über Albula, Bernina bis nach Tirano in Italien. Dann geht es wieder zurück in die Schweiz, ins Oberengadin nach Suvretta bei Sankt Moritz. Dort wohne ich für zwei Wochen im Hotel Suvretta. Zudem habe ich mich zu einem Snowboardkurs angemeldet. Ich komme erst im neuen Jahr wieder.“

„Respekt, Alter“, raunte Rudi, „da kann unsereins nur von träumen.“

Rudi und seine Familie waren vor ein paar Wochen in ein neues Haus eingezogen. Einen Teil des Neubaues hatten sie provisorisch hergerichtet, damit sie Weihnachten schon dort feiern konnten.

Rudi hatte eine sehr nette Frau und wohlgeratene Kinder. Karl beneidete ihn insgeheim um sein Familienglück. Er lebte alleine in einem modern aber unpersönlich eingerichteten Apartment. Deshalb hatte er die Patenschaft von Rudis Kindern übernommen, um gelegentlich an dessen Familienidylle teilzunehmen.

„Die Kinder werden enttäuscht sein, wenn du Weihnachten nicht mit uns feierst.“

„Ach was, Rudi“, gab Karl zur Antwort, „meine Geschenke machen das schon wieder wett. Außerdem möchte ich euch in eurem neuen Heim nicht zu sehr auf die Pelle rücken.“

Rudi ließ sich die Enttäuschung nicht anmerken, denn ihm lag viel an Karl, mit dem er schon seit der Schulzeit befreundet war.

Endlich war es so weit. Einige Tage vor Weihnachten verabschiedete Karl sich von seinen Kolleginnen und Kollegen und wünschte ihnen ein frohes Weihnachtsfest.

Die Bahnfahrt war recht angenehm. Höhe Montabaur hatte der Zug eine Reisegeschwindigkeit von 265 km/h und Karl sah, wie sich die Lastkraftwagen auf der Autobahn die Hügel hinaufquälten. Auch die Personenkraftwagen konnten diesem Tempo nicht folgen, egal ob Porsche, Mercedes oder BMW.

Entspannt traf Karl am späten Nachmittag in Chur ein. Das Hotel war wenige hundert Meter vom Bahnhof entfernt und ließ keine Wünsche offen.

Am Tag drauf überquerte Karl die Alpen in einem Panoramawagen der Rätischen Bahn. Das Wetter war klar und sonnig und es bot sich eine zauberhafte Aussicht.

Als der Zug an den Ausläufern des Val Poschiavo vorbeifuhr, sprach ihn eine ältere Dame an, die mit ihrem Mann hinter ihm saß.

„Ach entschuldigen Sie, junger Mann, ich will ja nicht aufdringlich sein, aber würden Sie mir verraten, wohin Sie reisen?“

So kamen sie ins Gespräch. Dabei stellten sie fest, dass sie im selben Hotel wohnten. Nach einer Weile holte Karl seine Kamera hervor und machte ein Foto nach dem anderen. Die Dame schien ein wenig enttäuscht und blieb bis zum Ende der Reise zurückhaltend.

Als sie in Tirano den Zug verließen, hielt sie Karl für einen Moment am Ärmel fest. „Ich glaube, junger Mann“, sagte sie mit fester Stimme, „in diesem Jahr wird man Sie wieder in Ihre Kindheit zurückversetzen.“

Dann verschwand sie mit ihrem Mann im Gewühl.

Karl dachte sich nichts bei ihren Worten. Für ihn war sie nur eine tüdelige, alte Dame.

Als er am Abend in seinem Hotelzimmer saß, musste er an Rudi und seine Familie denken. Es waren noch wenige Tage bis Heiligabend und ein Anflug von Wehmut kam in ihm auf. Es war ein seltsames Gefühl, an Weihnachten nicht in der gewohnten Umgebung zu sein. In der Nacht schlief er unruhig.

Am nächsten Tag ging es zurück nach Chur. Von dort nach Landquart und mit dem Engadin Star über Klosters und Zernez nach Sankt Moritz und Suvretta.

Am Morgen des 24. Dezember war die Stimmung im Hotel prima. Am Frühstücksbüfett traf er zufällig die ältere Dame aus dem Zug. „Dürfen wir uns zu Ihnen an den Tisch setzen?“, fragte sie Karl und zwinkerte ihm zu. „Erzählen Sie doch bitte meinem Mann und mir von den Eindrücken, die Sie in den letzten Tagen gewonnen haben.“

Das Frühstück dauerte diesmal länger als sonst. Überschwänglich berichtete Karl von der fantastischen Fahrt durch die verschneite Bergwelt, die er wahrscheinlich nie mehr vergessen würde.

„So wie ich Sie einschätze“, nickte der ältere Mann, „sind Sie noch für alle Wunder dieser Erde offen und können jederzeit Weihnachten so erleben, wie Sie es von früher kennen. Sie werden es sehen, denn Weihnachten ist immer noch in Ihrem Herzen.“ Etwas schwerfällig stand er auf, nahm seine Frau liebevoll in den Arm, und zusammen gingen sie aus dem Raum.

Karl blieb noch sitzen. Er dachte an den Snowboardkurs und an die Ausrüstung, die er ausleihen wollte.

Es war schon fast Mittag, als er auf sein Zimmer ging. Auf dem Beistelltisch fand er eine Nachricht von der Hoteldirektion:

Sehr geehrter Gast!
Heute am Heiligabend möchten wir, das Personal und die Direktion, Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich gestalten. Es ist Tradition, dass die Geschäftsleitung und das Personal zusammen feiern. Zu dieser Weihnachtsfeier möchten wir Sie recht herzlich einladen.
Wenn Sie daran teilnehmen möchten, finden Sie sich bitte um 19:00 Uhr im großen Saal ein.

Am Nachmittag wurde Karl von einer netten jungen Dame zu einer Schlittenfahrt eingeladen. Es war ein wunderschöner Ausflug. Die Sonne schien, die Natur war üppig eingehüllt in ihrer Schneepracht, und neben seiner Begleitung fühlte er sich pudelwohl.

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Weihnachten
Weihnachtsgeschichten
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Sabine Ludwigs: Schneefreuden

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Schneefreuden
© Sabine Ludwigs

 
Im Sommer wurde im Haus gegenüber ein neues Geschäft eröffnet. Es war ein Trödelladen und der Besitzer hieß Herr Lukas.

Herr Lukas war ein uralter Mann mit schlohweißen Haaren. Er hatte ein blaues und ein grünes Auge und mochte es gern, wenn sich Kinder an seinem kleinen Schaufenster die Nasen platt drückten. Und das taten sie häufig, allen voran Mario, denn bei Herrn Lukas gab es immer aufregende und seltsame Dinge zu entdecken.

Als die Weihnachtszeit kam, schmückten die Händler in der Straße ihre Schaufenster mit Lichterketten, bunten Päckchen, Tannenbäumen und Spielzeug. Alles strahlte, funkelte und sah prächtig aus.

Trotzdem war es das Schaufenster des Trödelladens, vor dem Mario am allerliebsten stehen blieb – denn da dampfte eine Modelleisenbahn durch eine Winterlandschaft. Ein Bahnhof stand neben einem hell erleuchteten Dorf. Es gab einen Weihnachtsmarkt und eine Kirche, vor der ein Christbaum aufgestellt war. Leute scharten sich um den Baum, hielten Notenblätter in der Hand und sangen. Ihre runden Münder waren weit aufgerissen. Mario stellte sich vor, dass sie gerade „O du fröhliche“ angestimmt hatten, und manchmal pfiff er die Melodie vor sich hin.

Der Zug fuhr mit rauchendem Schlot durch einen verschneiten Wald mit winzigen Rehen, Hasen und Füchsen. Daneben lag ein Rodelhang, auf dem Kinder mit wehenden Haaren und lachenden Gesichtern auf ihren Schlitten bergab sausten. Beinahe meinte Mario, ihr Rufen und Johlen hören zu können. Alles war so lebensecht und liebevoll dargestellt, dass er jeden Tag davor stehen blieb und nicht müde wurde es zu betrachten.

Wenn der Alte ihn sah, winkte er ihm hereinzukommen. Dann stieß Mario die Ladentür so heftig auf, dass die kleinen Glöckchen aufgeregt bimmelten.

„Möchtest du damit spielen?“, fragte Herr Lukas mit krächzender Stimme. Mario konnte nur stumm nicken. Dass er vorsichtig sein musste, brauchte man ihm nicht zu sagen, außerdem spielte er sowieso immer das Gleiche. Er nahm einen Schlitten, auf dem ein Junge mit einer blauen Mütze saß, und lenkte ihn den Rodelhang hinab. Wieder und wieder. Dabei röteten sich Marios Wangen, als führe er selbst durch den Schnee.

„Früher ist Papa oft mit mir ins Sauerland zum Rodeln gefahren“, hatte er Herrn Lukas einmal erzählt. „Aber er wohnt nicht mehr bei uns. Und hier schneit es fast nie.“

„Ich vermisse den Schnee auch“, sagte Herr Lukas wehmütig und schüttelte sich. „Ewig dieser Regen! Deswegen habe ich das Schaufenster gemacht. Dort bleibt der Schnee liegen, niemand schippt ihn weg oder streut Salz.“

Als Mario ein paar Tage vor Weihnachten im Trödelladen herumstöberte, entdeckte er in einem versteckten Winkel ein Regal, auf dem blanke Silberdosen aufgereiht waren. Vorn auf den Dosen hafteten Schildchen, auf die jemand in schnörkeliger Handschrift etwas geschrieben hatte: Weihnachtsmarkt, Krippenspiel, Schneefreuden, Himmelsbäckerei, Winterwald, las er zum Beispiel.

„Was ist da drin, Herr Lukas?“

„Nun, genau das, was draufsteht“, antwortete der alte Mann.

Mario nahm die Dose mit der Aufschrift Schneefreuden in die Hand. „Sind es Modelle für die Eisenbahn?“

„Nein, nein. Darin ist etwas Einzigartiges. Etwas wirklich Einzigartiges. Ich verkaufe es nur ganz selten und nicht an jedermann, das kannst du mir glauben! Bei dir würde ich eine Ausnahme machen, mein Freund. Aber man muss sich überraschen lassen und darf die Büchse erst öffnen, wenn sie einem gehört.“

„Mutti würde sagen, dann kauft man die Katze im Sack.“

Herr Lukas lachte.

„Was kostet die Dose?“

„Die erste Münze, die du aus deiner Tasche ziehst. Egal, welche es ist.“

Schon kramte Mario in seiner Hosentasche nach Kleingeld und zog ein blankes Eurostück hervor, das er Herrn Lukas in die Hand drückte.

„Nun gehört sie dir, mein Junge“, krächzte der. „Doch ich rate dir, sie erst zu Hause zu öffnen.“

In seinem Zimmer nahm Mario den Deckel ab und verzog vor Enttäuschung das Gesicht. In der Büchse lagen ein Stück braune Kreide, ein bronzefarbener, runder Türknauf aus Plastik und ein Zettel, auf dem stand: „Male eine Tür an die Wand, pappe den Türgriff an und öffne sie.“

Er wusste, dass seine Mutter nicht begeistert sein würde, wenn er die Wand beschmierte, doch die Worte auf dem Zettel schienen zu glühen … und sie war noch auf der Arbeit.

Also tat er, was auf dem Papierchen stand. Um die obere Hälfte zeichnen zu können, musste er auf einen Stuhl klettern. Er malte alles aus, sodass es wie eine Holztür aussah, dann klebte er den Plastikknauf fest und trat zurück, um sein Werk zu bewundern.

Eine prima Tür, gar keine Frage, und er hatte nicht ein Stäubchen Kreide überbehalten. Er holte einmal tief Luft, legte die Hand auf den Knauf und hätte sie beinahe vor Schreck wieder zurückgezogen, als der sich drehen ließ. Die Tür öffnete sich einen Spalt und schwang nach innen. Mario keuchte vor Überraschung und zog sie schließlich ganz auf.

Dahinter lag, mitten in einer glitzernden Schneelandschaft unter der Wintersonne, der Rodelhang aus dem kleinen Dorf, das in Herrn Lukas’ Schaufenster aufgebaut war. Kein Zweifel, er erkannte es sofort, sah den Kirchturm, den Waldsaum und hörte von irgendwoher das Heulen der Lokomotive. Eine Windbö trieb ihm kalte Luft ins Gesicht.

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Weihnachten
Weihnachtsgeschichten
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-9-8

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Buchtipp: Weihnachtsgeschichten Band 3

Weihnachtsgeschichten Band 3

Weihnachtsgeschichten Band 3

Weihnachtsgeschichten
Band 3

Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 3-978-939937-07-4

Kurzbeschreibung
An Weihnachten gibt es Wünsche, Engel und Geschenke. Was die Wünsche angeht, kann einem allerhand Erstaunliches passieren. Jens findet einen Füllfederhalter und schreibt seinen Wunschzettel mit seltsam wirksamer Sternentinte. Franzi bekommt auf seinen Wunschzettel sogar einen Antwortbrief vom Christkind, über den er sich mehr freut als über alle Geschenke. Berit wünscht sich Schnee, doch dann begegnet ihr ein ganz besonderer Junge, und plötzlich stellt sie fest, dass es nichts Schöneres gibt als Regen an Weihnachten. Ein anderer Junge wünscht sich einen Fußball und entdeckt, dass einen unter Umständen sogar der Teufel in den Himmel bringt. Ja, es kann sogar sein, dass man einem Wünschwas begegnet, dem zu antworten viel schwieriger ist, als einen Wunschzettel zu schreiben. Pauli hingegen weiß genau, was er sich wünscht: einen Stern. Und Linus‘ Großvater muss sogar auf einer Flöte spielen, die er seit einer Ewigkeit nicht in der Hand hatte, damit Linus‘ Wunsch das Christkind auch ganz bestimmt erreicht. Denn Linus wünscht sich nicht nur ein Wunder, er braucht es dringend. Darum ist es gut, dass die Flöte sogar einen Engel auf den Plan ruft. Aber auch Engel benehmen sich manchmal seltsam. Sie können sich als besonders anhänglich erweisen und einem aus der Kindheit bis in eine Studentenbude in Paris folgen. Ein anderer, der eigentlich in ein Schaufenster gehört, begegnet Elly im Zug und raucht sogar Zigaretten. Es gibt aber auch irdische Engel, so dass ein Geschenk an einen Engel gar nicht lange unterwegs sein muss. Und eine verschmitzte alte Dame zieht am Weihnachtsabend sogar ohne die Hilfe von Engeln an Schicksalsfäden. Dafür erweist sich ein bestellter Weihnachtsmann als überraschend echt, obwohl sein Geschenk höchst seltsam ist. Ein andermal ist es der Postbote, der eine wundersame Schneekugel bringt – doch war er wirklich nur der Postbote? Trotz aller Wunschzettel und himmlischen Boten sind die Geschenke gelegentlich anders als erwartet. Manche Gaben werden in der Phantasie größer als sie wirklich sind, und Freunde müssen einen auf die Erde zurückholen. Dafür kann eine vermeintlich klein gewordene Liebe sich an Weihnachten wieder als ganz groß herausstellen. Ein einsamer Mann erlebt, dass man mit einem Keks Hoffnung fangen kann. Manche Schätze liegen aber auch einfach auf der Straße und werden am besten zu zweit gefunden. Ein altes Ehepaar will gar keine Geschenke und nur einen kleinen Baum, weil ihre vielen Erinnerungen keinen Platz für mehr lassen. Wenn aber eine Kerze am Baum länger brennt als alle anderen, dann hat das einen Grund, der direkt aus dem Himmel kommt.

Klappentext
19 hoffnungsvolle Geschichten über ungewöhnliche himmlische Boten, über Wunschzettel und ein merkwürdiges Wünschwas, über weihnachtliche Erinnerungen, Hoffnungen, Wunder und die Liebe.

Weihnachtsgeschichten Band 3

Weihnachtsgeschichten Band 3

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Und hier gibt es *** die vermutlich umfangreichste Sammlung deutschsprachiger Weihnachtsgeschichten im Internet ***
Und hier findet man *** unsere Weihnachtsbücher

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Weihnachtsgeschichten Amazon Verkaufshit

Weihnachtsgeschichten

Weihnachtsgeschichten

Buchtipp Weihnachtsgeschichten Amazon Verkaufshit Bestseller Weihnachtsbestseller Weihnachtstipp

Wenn man bei Amazon das Stichwort „Weihnachtsgeschichten“ eingibt, dann wird man das folgende Buch sehr weit oben in der Hitliste finden, oft sogar auf Platz 1

Weihnachtsgeschichten
Hrsg. Ronald Henss
ISBN 978-3-98093369-8

Klappentext: Zwanzig Autoren erzählen in diesem Buch von Menschen, denen an Weihnachten nicht nur Gänsebraten und teure Geschenke wichtig sind. Manche sind auf der Suche nach Glück. Der kleine Martin hat kein Glück, bis ihm jemand eine ganz besondere Blume bringt. Jeremias wünscht sich verzweifelt einen Glücksbringer und bekommt schließlich das, was er wirklich gesucht hat. Sybille erlebt, dass man Hoffnung auf Glück plötzlich auf dem Beifahrersitz finden kann. Für andere ist eine unerwartete Lektion das größte Geschenk. Herr Fink kommt auf dem Weihnachtsmarkt so schnell nicht an seine Bratwurst, dafür lernt er etwas Entscheidendes. Paul erhält eine gute Erklärung dafür, warum es offenbar zwei Nikoläuse gibt, und Kathi ist erleichtert, dass nicht nur sie, sondern sogar das Christkind Fehler macht. Juli lernt, dass etwas ganz Einfaches schwer zu bekommen sein kann; und ein Indianer weiß, wo man am besten Weihnachten feiert, wenn man einen lieben Menschen verloren hat. Einige sind an den Feiertagen unterwegs – und trotzdem begegnet ihnen Weihnachten. Eine Studentin findet auf einer Trekkingtour durch die Wüste ihren Traumprinzen dort, wo vor sehr langer Zeit Maria und Josef unterwegs waren. Woanders bewirkt unter Palmen eine Flaschenpost ein Wunder und der Weihnachtsmann ist zuverlässiger als ein Hubschrauber. Eine Zirkusartistin, die viele Jahre nicht zu Hause war, macht sich ängstlich auf den Weg dorthin und erlebt eine Überraschung. Wieder andere sehnen sich nach Freundschaft. Aus einer schweigenden Freundschaft wird kurz vor Weihnachten eine, in der man über alles reden kann. Mona bekommt eine Freundin, als sie etwas zurückgibt, was ihr nicht gehört. Ein Kind schenkt dem alten Michael seine Freundschaft und bekommt dafür eine Zukunft. Auch Herr Jakob hat ganz besondere Freunde, und zusammen mit Lilly darf der Leser das zauberhafte Wunder schauen, das sie möglich machen.

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Eine Leserin meint: Ich habe schon einige Weihnachtsgeschichten- sammlungen gelesen und kann mich nur an ein Buch erinnern, das ähnlich gut war! Leserin BookCrossing (http://www.bookcrossing.com/journal/4485461)

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Weihnachten Weihnachtsgeschichten und Weihnachtsgedichte

Buchtipp – Weihnachtsbuch – Weihnachten Weihnachtsgeschichten und Weihnachtsgedichte

Weihnachten
Weihnachtsgeschichten
und Weihnachtsgedichte

Hrsg. Ronald Henss
Illustrationen Hilde Bergmann
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-09-8

Weihnachtsgeschichten und Weihnachtsgedichte für die ganze Familie. Mal besinnlich mal heiter. Zum stillen Schmökern oder zum Vorlesen. Illustriert mit weihnachtlichen Scherenschnitten.

Das Buch
*** Weihnachten bei Amazon bestellen

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