
Weihnachtsgeschichten
© Elisabeth Graf
Heiligabend. Wie jedes Jahr feiern wir im engsten Familienkreis, unter einem großen, reich geschmückten Weihnachtsbaum. Das sanfte Licht elektrischer Kerzen erhellt den Raum und sorgt für die richtige Stimmung. Meine Mutter und meine Schwester begleiten Weihnachtslieder aus dem CD-Player mit der Blockflöte, und mein Bruder, mit seinen zwanzig Jahren manchmal noch immer ein großes Kind, packt ein Computerspiel nach dem anderen aus. Mein Vater sitzt still auf dem Sofa und streichelt den Hund, der zufrieden schnarchend neben ihm liegt und Weihnachten Weihnachten sein lässt.
Ruhe und tiefe Zufriedenheit erfüllen mich, während ich vor dem Baum auf dem Boden knie, das Spiel der Lichter auf den roten, goldenen und silbernen Christbaumkugeln betrachte und in die strahlenden Gesichter von Maria, Josef und den Hirten in der alten Holzkrippe schaue.
Das Schellen der Türglocke reißt mich aus meiner Versunkenheit. Der Hund springt auf und rast wild bellend zur Wohnzimmertür.
„Wer kommt denn jetzt?“, wundert sich meine Mutter. „Um halb zehn am Heiligen Abend?“
„Ich gehe nachsehen“, biete ich an.
Als ich die Haustür öffne, fegt mir ein eisiger Windstoß entgegen. Mein Atem bildet kleine Wölkchen vor meinem Gesicht. Niemand ist zu sehen. Aber im Licht der Straßenlaterne erkenne ich Fußspuren, die von der Straße her über unseren Hof zur Haustür und wieder zurück führen. Voller Ärger über den billigen Scherz möchte ich ins Haus zurückkehren, da fällt mein Blick auf ein Päckchen, das in buntes Geschenkpapier eingewickelt ist. Ich hebe es auf, drehe und wende es. Doch ich finde weder einen Absender noch eine Anschrift.
„Wer war das?“, will mein Vater wissen, als ich ins Wohnzimmer zurückkehre.
Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung! Aber er hat das hier gebracht.“ Und ich halte das Päckchen hoch.
Meine Schwester macht große Augen. „Für dich?“, fragt sie neugierig.
Wieder kann ich nur mit den Schultern zucken. „Ich weiß nicht. Es steht nichts darauf.“
Ich setze mich aufs Sofa, schiebe den Hund beiseite, der das Päckchen beschnuppern möchte, reiße das Geschenkpapier auf, und als ich den Karton öffne, kommt das Geschenk zum Vorschein. Einen Moment lang bin ich ratlos. Dann erst geht mir ein Licht auf.
Natürlich: Weihnachten vor fünf Jahren …
*
Sie hieß Rania – wie die Königin von Jordanien. Und sie war auch schön wie eine Prinzessin: ein bezauberndes kleines Mädchen von acht Jahren mit haselnussbraunen Augen und dunklem, gelocktem Haar, das voll und glänzend auf ihre Schultern fiel.
Rania gehörte zu einer palästinensischen Familie, mit der ich immer noch eng befreundet bin. Sie lebte mit ihren Eltern und acht älteren Geschwistern in einer viel zu engen Wohnung am Rand unseres Dorfes.
Rania war ein kleiner Sonnenschein, immer bester Laune, voller Energie und Tatendrang.
Daher erstaunte es mich, dass ich sie eines Tages kurz vor Weihnachten still am Küchentisch sitzend antraf.
Eine Weile unterhielt ich mich mit ihren Geschwistern und beobachtete sie dabei verstohlen aus den Augenwinkeln.
Wir lachten viel. Aber Rania, die eigentlich nichts lieber tat als lachen, beteiligte sich nicht daran. Auch begrüßt hatte sie mich nur kurz und flüchtig, während sie sich mir sonst wie ein kleines Äffchen an den Hals warf und munter drauflos plapperte.
Wie ein Häufchen Elend kauerte sie auf ihrem Stuhl und starrte vor sich hin.
„Was ist los mit dir, Rania?“, fragte ich besorgt.
Die Kleine antwortete nicht. Sie hob nicht einmal den Blick, zuckte nur mit den Schultern.
„Wir wissen nicht, was sie hat“, erklärte mir Ibrahim, ihr Bruder. „Aber seit ein paar Tagen ist sie wie ausgewechselt.“
Die Mutter stellte eine Tasse dampfenden Tee vor mich hin. „Ich mache mir Sorgen um das Kind“, sagte sie in ihrem gebrochenen Deutsch und strich ihr langes, dunkles Haar zurück. Vor mir trug sie es offen. Aber sobald ein Mann das Haus betrat, der nicht zum engsten Familienkreis gehörte, verbarg sie es unter einem Kopftuch. „Rania spricht kaum noch. Irgendetwas bedrückt sie, aber sie erzählt es mir nicht.“
Eine Rania, die nur noch stumm in der Ecke saß? Das hörte sich tatsächlich nicht gut an. Ich wandte mich an das Mädchen, obwohl ich kaum Hoffnung hatte, dass es mir mehr anvertrauen würde als seiner Familie: „Hast du Probleme in der Schule?“
Zu meiner Überraschung hob Rania den Kopf, und als ich in ihre dunklen Augen sah, wurde mir erneut bewusst, wie sehr ich an diesem Kind hing.
„Wann ist Weihnachten?“, erkundigte es sich mit dünner, zitternder Stimme.
„In zwei Tagen“, antwortete ich leicht verwirrt.
„Feierst du das?“, wollte sie wissen.
„Ja.“
Ranias Augen füllten sich mit Tränen. „Du hast es gut“, presste sie hervor. „Ich will auch Weihnachten feiern!“
„Unsinn, Rania!“, mahnte ihre Mutter streng. „Weihnachten feiern nur die Christen.“
Rania schluchzte etwas auf Arabisch, das den Rest ihrer Familie nach Luft schnappen ließ, schlug die Hände vors Gesicht und begann hemmungslos zu weinen.
Mir tat es weh, sie so zu sehen. Ich trat neben sie und schloss sie fest in die Arme.
„Was hat sie gerade gesagt?“, wandte ich mich an den Rest ihrer Familie.
„Dass sie Christin werden will“, murmelte die Mutter. Ihre Stimme bebte vor Empörung.
Für einen Moment schwieg ich betroffen. Ich spürte, dass ich mich auf dünnem Eis befand. Auf keinen Fall durfte ich den Eindruck erwecken, als wollte ich Rania in Sachen Religion beeinflussen. Sonst bestand die Gefahr, dass ich die Sympathie ihrer Familie verlor. Obwohl uns kulturell Welten trennten und sie von meiner Lebensweise manches genauso wenig verstanden wie ich von der ihren, bedeutete mir diese Freundschaft viel.
„Warum möchtest du denn Christin werden, Rania?“, fragte ich. „Du hast doch deinen eigenen Glauben.“
„Weil ich auch Weihnachten feiern will!“ Sie schluchzte nun derart heftig, dass es meinen ganzen Körper schüttelte, während ich sie festhielt.
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… die vollständige Geschichte findet sich in dem Buch
Weihnachtsgeschichten
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-9-8
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