
Weihnachtsgeschichten
© Sigrid Wohlgemuth
Die Hofeinfahrt war spiegelglatt.
„Halt!”, schrie Stefanie. Sie rannte hinter der weißen Gestalt her, kam ins Schlittern und fiel der Länge nach in den Schnee. „Verdammt!”, schimpfte sie.
Ein Streuwagen fuhr gerade an ihrem Haus vorbei. Der Mann hinter dem Steuer hupte und winkte ihr grinsend zu. „Blödmann!“, ging es ihr durch den Kopf. „Hoffentlich hat mich wenigstens der neue Nachbar nicht beobachtet.“
Im selben Augenblick trat Denis aus dem Haus. Sein Bernhardiner Hector zog ihn über die vereiste Einfahrt. Denis geriet ins Rutschen und landete direkt neben Stefanie auf dem Hosenboden. Hector leckte abwechselnd ihre und seines Herrchens Wangen.
„Fehlt nur noch, dass der Hund ein SOS-Fass um den Hals trägt“, dachte Stefanie. Dann blickte sie in Denis’ dunkelgrüne Augen und sah, wie sich kleine Eiskristalle an den feuchten Wimpern bildeten. Das fand sie komisch und fing aus vollem Hals an zu lachen.
„Schauen Sie”, flüsterte Denis und zeigte mit der Hand in Richtung Straße.
Da sah Stefanie, dass sich einige Passanten vor dem Grundstück aufgebaut hatten und sie amüsiert beobachteten.
Stefanie und Denis rappelten sich auf. Vorsichtig machte Stefanie einen Schritt nach vorne und verlor erneut das Gleichgewicht. Mit einer Hand griff sie nach Denis’ Anorak und riss ihn mit sich auf den schneebedeckten Boden. Hectors Leine wickelte sich um ihre Fußgelenke.
Die Schaulustigen klatschten lachend Beifall.
Denis entwirrte die Hundeleine und half seiner jungen Nachbarin aufzustehen.
Stefanie blickte die Straße hinauf und hinunter, doch die weiße Gestalt war nicht mehr auszumachen.
„Suchen Sie etwas?”, fragte Denis und klopfte sich den Schnee von der Hose.
„Da war vorhin ein G… Ach, nichts. Mir ist kalt.” Ihre Zähne klapperten.
Denis blickte sie besorgt an.
„Ich brauche jetzt ein heißes Bad.” Stefanie ging mit vorsichtigen Schritten auf ihr Haus zu.
Denis winkte zum Abschied und schlitterte langsam die vereiste Einfahrt entlang bis zum Bürgersteig.
Eiligen Schrittes ging Stefanie in die Küche, schob die Gardine zur Seite und schaute auf die Straße. Die Allee war menschenleer. Sie schüttelte den Kopf. „Was war das bloß, was ich vorhin an meinem Fenster vorbeihuschen sah?“
Im Badezimmer öffnete sie den Wasserhahn, hielt die Finger darunter und hatte auf einmal einen kleinen Eiszapfen in der Hand. Erschrocken ließ sie ihn fallen. Es klirrte, als er in der Wanne landete. Stefanie hielt wieder die Hand unter den Kran. Dieses Mal war es ein winziger Eisball, der in ihre Handfläche kullerte. Sie drehte an den Armaturen, doch es änderte sich nichts. Immer wieder kamen neue Eisfiguren zum Vorschein. Auch am Waschbecken klapperte nur Gefrorenes aus der Leitung.
„Was ist hier los?”, fragte sie sich und betätigte die Spülung der Toilette. Unzählige Eiskristalle purzelten aus dem Wasserkasten.
Auf einmal spürte sie die Kälte, die im Haus herrschte. „Oh, bitte keine kaputte Heizung!“
Stefanie stieg in den Keller hinunter. Die Heizung war abgestellt. Sie drückte den roten Knopf und das Gerät sprang wieder an. „Ein Glück!”, murmelte sie erleichtert.
Da nahm sie im hinteren Kellerraum leises Geraschel wahr. Es hörte sich an, als würde jemand verzweifelt nach etwas suchen.
Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür, spähte um die Ecke und hielt vor lauter Schreck die Luft an. Ein Schneemann durchwühlte gerade ihren alten Kleiderschrank. Mucksmäuschenstill presste sie sich an die Wand und beobachtete den sonderbaren Eindringling. Als er einen langen, roten Schal und eine Skimütze hervorzog, konnte Stefanie ihre Neugierde nicht länger zügeln. Obwohl ihre Beine vor Angst schlotterten, trat sie auf den seltsamen Gast zu. „Was machen Sie da?” Fast wäre ihr die Stimme weggeblieben.
Der Schneemann fuhr herum.
„Wieso haben Sie sich als Schneemann verkleidet, meine Heizung abgestellt und sind in meinen Keller eingebrochen?”, fragte Stefanie, die ihre Stimme wiedergefunden hatte.
Er räusperte sich. „Äh …”, hob er an, „das ist kein Kostüm.“ Dann bückte er sich, löste ein wenig Schnee aus seinem unteren runden Teil und reichte ihn Stefanie.
Es fühlte sich echt an.
„Und … das …?”, stotterte sie und deutete auf die Kleidungsstücke.
„Ihr Nachbar hat vergessen, mich fertigzustellen“, erklärte der Schneemann.
„Sie meinen Denis?”
„Er hat mich im Morgengrauen im hintersten Winkel seines Gartens gebaut und darauf geachtet, dass keiner ihn dabei beobachtet. Einmal hat er etwas gemurmelt. Ich glaube, er sagte: ‘Ich bin zu alt zum Schneemannbauen. Nicht auszudenken, wenn Stefanie mich erwischen würde!’“
„Das hat er gesagt?”
Der Schneemann nickte. „In Denis’ Haus kam ich nicht hinein, der hat seine Tür abgeschlossen, darum bin ich bei Ihnen über die Terrasse …”
„Jetzt verstehe ich! Ich habe Sie gesehen. Und ich dachte, Sie wären ein Gespenst … Bin rausgerannt und hingefallen und hab mich vor Denis blamiert.”
Der Schneemann rollte mit den Kohlenaugen. „Ich verstehe Sie und Denis nicht. Warum haben Sie beide dauernd Angst, sich vor dem anderen lächerlich zu machen?” Doch er ließ ihr keine Zeit, darüber nachzudenken. „Darf ich mir diese Sachen ausborgen?“, fragte er. „Hier ist es viel zu heiß. Ich muss so schnell wie möglich in den Garten zurück, und dort möchte ich schließlich nicht völlig nackt herumstehen.“
Erst jetzt bemerkte Stefanie, dass es von seiner Stirn tropfte. Schnell stellte sie die Heizung wieder aus.
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… die vollständige Geschichte findet sich in dem Buch
Weihnachtsgeschichten
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-9-8
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