
Weihnachtsgeschichten
© Sabine Rohm
Mein Name ist Lisa. Obwohl ich meiner Meinung nach inzwischen schon ganz schön alt bin, erinnere ich mich gerne an meine Kindheit. Hannes Diehsel war ein Teil davon. Da wir am Rande einer Kleinstadt wohnten, gab es einen Schulbus, der uns zum Unterricht bringen musste. Hannes Diehsel war der Fahrer, stets aufmerksam, zuverlässig und ein väterlicher Freund.
Es war der letzte Schultag vor Weihnachten. Es war klirrend kalt und der Atem gefror beim Sprechen fast schon zu Eis. Wir standen zitternd an der Haltestelle. Pünktlich kam der rote Schulbus. Wir kletterten schnatternd in den geheizten Bus und setzten uns auf unsere Plätze. Hannes Diehsel lächelte uns nachdenklich an. An jenem Tag machte er einen müden und bedrückten Eindruck auf mich. Aber ich dachte nicht länger darüber nach.
Am Abend vor Weihnachten lag ich in meinem Bett und hoffte auf Geschenke, die ich am nächsten Morgen aus den Socken herausfischen würde, die ich am Kamin aufgehängt hatte. Plötzlich hörte ich lautes Gepolter. Niemand in meiner Familie schien etwas gehört zu haben, aber mir standen vor Schreck die Haare zu Berge. Einbrecher oder Weihnachtsmann? Ich saß in meinem Bett und kaute hin und her gerissen an meinen Fingernägeln. Schließlich nahm ich mich zusammen und schlich hinunter ins Wohnzimmer.
Meine Socken hingen noch genau so dort wie ich sie hinterlassen hatte. Aber im Kamin tat sich einiges. Plötzlich ertönte lautes Getöse. Eine pechschwarze Wolke quoll aus der Öffnung und verwandelte mein weißes Nachthemd in eine dunkle Mönchskutte. Ich atmete den Ruß ein und hustete mir die Seele aus dem Leib.
Jemand quetschte sich durch den Kamin. Das konnte kein Einbrecher, das musste der Weihnachtsmann sein! Ich zerrte mit aller Kraft an den Stiefeln. Als endlich die schwarze Gestalt in voller Größe vor mir stand und sich mit müden Bewegungen den Schmutz aus dem Mantel klopfte, sah ich in ein rußverschmiertes Gesicht. – Es war Hannes Diehsel!
Ich schrie auf vor Schreck, schlitterte auf meinen Nachtsocken zur Vitrine und schüttete den besten Whisky meiner Eltern in ein großes Glas. Ich schlitterte zurück, reichte Herrn Diehsel das volle Glas und sah ihn neugierig an. Warum kletterte ein korrekter Schulbusfahrer, verkleidet als Weihnachtsmann, durch unseren Kamin?
Hannes Diehsel nahm das Whiskyglas dankbar entgegen, trank in drei Schlucken das wertvolle Heilmittel und sagte: „Lisa, ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr erschreckt. Mich überfiel mitten in eurem Kamin eine plötzliche Schwäche.“ Er hustete.
„Na ja, Herr Diehsel“, antwortete ich und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Irgendwie sahen Sie in den letzten Tagen auch ein bisschen daneben aus.“
Hannes Diehsel ließ sich in den beigefarbenen Lesesessel meines Vaters plumpsen.
„Wie werde ich morgen die Rußflecken erklären?“, dachte ich und sah auf mein Nachthemd und die schwarzen Fußspuren auf dem hellen Lieblingsteppich meiner Mutter.
„Du wunderst dich, dass ich als Weihnachtsmann durch Kamine klettere?“ Hannes Diehsel blickte nachdenklich auf ein Foto meiner Familie und fuhr fort: „Die Verwandlung vollzog sich zum ersten Mal vor zwanzig Jahren. Es war kurz vor Weihnachten. Ich hatte draußen ein Geräusch gehört und wollte nachsehen, ob mit dem Schulbus alles in Ordnung war. Plötzlich fing der Wagen an zu schaukeln und zu dampfen. Ich dachte, er würde explodieren. Ich trat ein paar Schritte zurück, es gab einen lauten Knall und vor mir stand ein roter Schlitten, gezogen von acht Rentieren. Ich blickte an mir hinunter und konnte es kaum glauben: Ich hatte mich in einen Weihnachtsmann verwandelt! Der Schlitten war vollgepackt mit Geschenken und ich wusste genau, wer sie bekommen sollte. Ich setzte mich in den Schlitten, fuhr von Haus zu Haus, kletterte heimlich durch Kamine und verteilte die Geschenke. Nach getaner Arbeit verwandelten sich der Schlitten und die Rentiere wieder in meinen Schulbus und ich war wieder Hannes Diehsel. So geht es nun schon Jahr für Jahr.“
„Sie sind also der Weihnachtsmann“, stammelte ich.
„Nicht der Weihnachtsmann“, verbesserte er mich lächelnd. „Ein Weihnachtsmann. Bisher habe ich meine Arbeit immer gern getan. Aber mittlerweile ist es ein Fluch“, sagte er und blickte mich traurig an. „Die Menschen wollen immer mehr, werden immer oberflächlicher, begnügen sich nicht mehr mit kleinen Dingen. Die Geschenke müssen immer zahlreicher und immer teurer, größer und wertvoller werden. Wir, die auserwählten Weihnachtsmänner, schaffen diese Masse nicht mehr. Oft bleiben wir in den Kaminen stecken, weil die Pakete zu groß und zu schwer sind.“
Er griff in den Sack, den er neben den Sessel gestellt hatte, und reichte mir einen kleinen Stoffhasen, der ganz oben auf meinem Wunschzettel gestanden hatte. Dann erhob er sich, strich mir über die Haare und sagte: „Frohe Weihnachten, liebe Lisa. Wir sehen uns bei Schulanfang wieder.“
Noch heute steht dieser Stoffhase auf meinem Schreibtisch. Täglich erinnert er mich daran, dass man sich auch an Kleinigkeiten erfreuen kann.
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Diese Geschichte findet sich in dem Buch
Weihnachtsgeschichten
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-9-8
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