Eva Markert: Marzipankartoffeln

Weihnachtsbuch Weihnachtsgeschichten

Weihnachtsgeschichten

Marzipankartoffeln
© Eva Markert

 
„Das kann nicht dein Ernst sein!“ Klaus warf seiner Frau einen entgeisterten Blick zu.

„Heute ist Heiligabend, da darf man schon mal sündigen!“, erwiderte sie und nahm noch eine Marzipankartoffel.

„Aber wir haben doch gerade erst zu Mittag gegessen.“

Die dritte Kartoffel landete in Kerstins Mund. „Mmm, lecker!“

„Du kannst unmöglich noch Hunger haben!“

„Hunger nicht, aber einen Riesenappetit. Diese Marzipankartoffeln schmecken unglaublich gut. Du solltest auch mal eine probieren.“ Sie hielt ihm die 500-Gramm-Dose hin.

Abwehrend streckte Klaus beide Hände aus und wandte den Kopf ab. „Für kein Geld der Welt könnte ich jetzt noch Marzipan essen.“

„Aber ich.“ Kerstin langte wieder zu. Sie grinste. „Und ich tue es sogar umsonst.“

„Dass dir nicht schlecht wird“, murmelte Klaus und begann den Tisch abzuräumen. Bevor er den Deckel auf die Dose stülpte, runzelte er die Stirn. „Sag mal, die haben wir doch erst heute Morgen gekauft. Hast du all die Marzipankartoffeln in der kurzen Zeit verschlungen?“

„Ich hatte eben Lust darauf.“ Kerstin nahm den Deckel wieder ab und griff zu.

Sie saß am Tisch und aß, während Klaus das Geschirr in die Spülmaschine räumte. In seinem Gesicht arbeitete es. Als die Dose zum wiederholten Male knackte, wandte er sich zu Kerstin um. „Ich verstehe dich nicht. Dauernd jammerst du über deine Figur. Willst abnehmen. Warum stopfst du dich dann mit Marzipan voll?“

Kerstins Daumen und Zeigefinger, zwischen denen eine Marzipankartoffel klemmte, stockten kurz vor ihrem geöffneten Mund. „Findest du mich zu dick?“

„Nein, das habe ich nicht gemeint.“

Kerstin warf die Kartoffel in den Mund. „Volltreffer!“, brachte sie hervor und kaute zufrieden.

„Was ich meinte, ist, wenn du so weitermachst …“

„Ich werde nicht ewig so weitermachen, da kannst du ganz beruhigt sein.“

Bis die Küche aufgeräumt war, hatte sich der Pegelstand in der Dose noch weiter gesenkt. Inzwischen schaute Klaus recht finster drein. „Dir wird übel werden und dann verdirbst du uns das ganze Fest.“

Kerstin lehnte sich zurück und rieb mit der Hand leicht über ihren Magen. Als Klaus die Dose wegräumte, protestierte sie nicht.

Er setzte sich ihr gegenüber und sah sie prüfend an.

„Oh nein“, stöhnte sie, „ich glaube, du hattest Recht.“

„Dir ist schlecht?“

„Ja! Ich glaube, ich muss …“ Sie sprang auf und rannte aus der Küche.

„Ich hab’s gewusst“, rief er ihr hinterher. „Fröhliche Weihnachten, kann ich da nur sagen!“

Als Kerstin zurück in die Küche gewankt kam, sah sie ziemlich blass aus.

Klaus seufzte. „Sicher musst du dich jetzt hinlegen.“

„Nein, nein“, widersprach sie. „Wir machen weiter wie geplant. Lass mich nur einen Augenblick verschnaufen. Dann schmücke ich den Weihnachtsbaum und du fängst mit den Vorbereitungen für das …“ – sie verzog das Gesicht – „… für das Abendessen an.“

Schnell kehrte Farbe in ihre Wangen zurück und bald darauf blitzten ihre Augen wieder. „Auf geht’s“, rief sie. „Und komm ja nicht rein, bevor ich dich rufe!“

Klaus musste lächeln. Kerstin hatte eine ganz bestimmte Vorstellung davon, wie ein Weihnachtsbaum auszusehen hatte, und das Schmücken war für sie eine Zeremonie, die sie sehr ernst nahm.

„Hast du überhaupt schon die Schachteln mit dem Baumschmuck aus dem Keller geholt?“, fragte er.

„Ich habe alles vorbereitet, du brauchst dich um nichts zu kümmern. Aber denk dran: Zutritt verboten!“ Damit schlug sie ihm die Wohnzimmertür vor der Nase zu.

Es kam Klaus so vor, als ob sie dieses Jahr besonders lang für das Herrichten des Weihnachtsbaumes brauchte. Jedenfalls hatte er den Rotkohl schon vorbereitet, die Klöße geformt und die Gans in den Bräter gelegt, als sie ihn endlich rief.

Lächelnd erwartete sie ihn vor der geschlossenen Tür. Er strich ihr über die Haare und gab ihr einen Kuss. Jedes Jahr präsentierte sie ihm ihren Weihnachtsbaum, als ob es das erste Mal wäre. Dabei sah er immer gleich aus: kunterbunt mit elektrischen Kerzen und Goldlametta. „Ein Kinderbaum“, sagte sie immer. „So finde ich ihn am schönsten.“

Mit einem Schwung riss sie die Wohnzimmertür auf. Die Kerzen brannten schon, obwohl sie sonst immer darauf bestand, damit zu warten, bis es dunkel war. Auch hatte sie viel weniger Kugeln und Lametta in dem Baum verteilt. Stattdessen …

Er rührte sich nicht vom Fleck.

„Dieses Jahr habe ich ihn ein bisschen anders geschmückt“, rief sie. „Gefällt es dir?“

Er konnte nicht einmal nicken. Nur langsam sickerte in ihn hinein, was er da sah.

Sie zog ihn bis vor den Baum. Zögernd streckte er seine Hand aus und berührte die winzigen Schühchen, Lätzchen und Schnuller, die in den Zweigen hingen.

„Du …“

Sie nickte und strahlte ihn an.

Er ließ sich aufs Sofa fallen. „Ich … ich … freu mich ja so“, stammelte er.

Sie kuschelte sich an ihn. „Weißt du, was ich jetzt am allerliebsten hätte?“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Ein paar von diesen überaus köstlichen, dicken, weichen, saftigen Marzipankartoffeln.“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen jeglicher Art nur mit Zustimmung des Verlags.


Diese Geschichte findet sich in dem Buch
Weihnachten
Weihnachtsgeschichten
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-9-8

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