Sabine Liefke: Weihnachtswunder

Weihnachtsgeschichten

Weihnachtswunder
© Sabine Liefke

 
Bestimmt zum zehnten Mal rannte ich zum Kinderzimmerfenster. Draußen war alles grau und düster. Die Straße schimmerte feucht, von den kahlen Bäumen fielen dicke Tropfen und die letzten Laubreste lagen in der Gosse. Leer war es auf der Straße. Normalerweise sah man wenigstens ein paar Katzen herumstreunen, Vögel bei der Futtersuche oder den alten Opa Holzmann, der mit seinem Hund spazieren ging.

Enttäuscht drehte ich mich vom Fenster weg und ließ meinen Blick durchs Zimmer schweifen. Alles war blitzblank. Schon seit zwei Tagen. Wie jedes Jahr war auch dieses Mal der Spruch von meiner Mutter gekommen: „Räum endlich dein Zimmer auf, sonst bringt dir das Christkind nichts.“ Was tut man nicht alles, um sich vor Weihnachten bei den Eltern beliebt zu machen.

Natürlich glaubte ich schon lange nicht mehr an das Christkind, aber ich wollte meiner Mama nicht ihre Illusionen nehmen. Die denkt nämlich, dass es dieses wundersame Wesen wirklich gibt. Und die Mutter von Jonas, meinem besten Freund, auch. Sie erzählt uns immer wieder gerne von dem Tag, an dem sie es angeblich getroffen hat. Früher haben wir die Geschichte geglaubt und jeden Tag in der Adventszeit Ausschau nach ihm gehalten. Doch weil es nie kam und auch unsere Freunde dem Christkind nie begegnet sind, haben wir begriffen, dass es nur ein Märchen ist. Oder vielmehr eine Ausrede, damit wir unsere Zimmer aufräumen und im Haushalt helfen und einmal keine Streiche aushecken. Jedenfalls hatte ich mein Zimmer, so gut es ging, aufgeräumt und nun kam es mir langweilig und fremd vor. Ich traute mich nicht, mit irgendetwas zu spielen, weil ich es sonst wieder unordentlich machen würde und mit dem Aufräumen von vorne beginnen müsste.

Bis zum Heiligen Abend waren es noch fünf lange Tage und das Schlimmste war, dass noch nicht einmal Schnee lag. Dann hätte man wenigstens draußen spielen können, Schneemänner bauen, Schneeballschlachten machen oder Schlitten fahren. Mama sagte immer: „Wenn es erst sehr spät im Jahr schneit, waren viele Kinder unartig. Möchtest du auch schuld daran sein, wenn es in der Adventszeit keinen Schnee gibt?“ Ich glaube ja eher, dass es die Schuld des Wettermannes aus der Nachrichtensendung ist. Der sagt doch immer, wie das Wetter wird. Vielleicht sollte ich ihn mal anrufen und fragen, ob er Schnee ansagen kann und nicht Regen.

Entschlossen, diese Idee mit Jonas zu besprechen, nahm ich Mütze, Schal und Jacke aus meinem Kleiderschrank und suchte meine Mutter. So wie es im Flur roch, war sie bestimmt in der Küche und buk Weihnachtsplätzchen. Das war, abgesehen von Eiszapfen und Schnee, das Schönste an der Weihnachtszeit. Immer duftete es nach Plätzchen, Kuchen und Stollen. Und wenn man es richtig anstellte, konnte man auch heimlich vom Teig naschen ohne erwischt zu werden. Mama stand am Küchentisch und säuberte ihn gerade von Mehl und Teig. Das Backblech war im Ofen und ich freute mich schon auf den nächsten Morgen – zum Frühstück würde es Plätzchen und Christstollen mit Nüssen und Rosinen geben. Meine Mama sah ziemlich zerzaust aus. Die dunklen Haare fielen wirr durcheinander, an den Wangen klebte Mehlstaub und die bunte Schürze, die sie umgebunden hatte, hatte mehrere Teigflecken.

Ich fragte, ob ich zu Jonas gehen dürfte. Sie nickte fröhlich. „Sei aber um sechs zurück. Wir wollen dann zu Abend essen.“

„Das ist ja wunderbar“, dachte ich, „ganze drei Stunden Zeit.“

Meine dicken Stiefel standen im Flur, ich zog sie schnell an und huschte aus dem Haus. Auf der Straße sog ich die frische Luft tief ein. Es war kalt und roch nach Schnee. Endlich! Um das Haus zu erreichen, in dem Jonas wohnte, musste ich die Straße hinunterlaufen und dann eine große Wiese überqueren. Es war nicht weit, keine zehn Minuten. Als ich mich der Wiese näherte, fielen ein paar vereinzelte Schneeflocken auf meine Nase und ich sprang vor Freude in die Luft. Bald würden Jonas und ich Wettrennen mit unseren Schlitten veranstalten können.

Voller Vorfreude stapfte ich weiter. Auf der Wiese blieb ich erstaunt stehen. Mitten im nassen Gras saß ein kleines Mädchen und weinte.

„Typisch“, dachte ich mir, „Mädchen weinen ja immer. Aber warum zum Kuckuck sitzt das Mädchen bei diesem Wetter auf dem Boden?“

Sie war höchstens sechs Jahre alt. Ihre silbrigblonden Haare lockten sich um ihr blasses Gesicht und in der Hand hielt sie eine alte, schäbige Puppe. Ich sah, dass sie kaputt war – ein Bein war abgerissen. Ich stapfte über die Wiese, und als ich vor dem Mädchen stand, blickte sie mich mit großen Augen an.

„Was hast du denn? Warum weinst du?“, fragte ich und versuchte im Stillen zu erkennen, welche Farbe ihre Augen hatten. Sie waren irgendwie blau und grün, oder doch eher braun?

„Seltsam“, dachte ich, als sie mit glockenheller Stimme zu sprechen begann: „Ein großer Junge mit roten Haaren hat meine Puppe kaputt gemacht. Ich wollte meiner Angela das Laufen beibringen. Da kam der Junge und lachte mich aus. Er riss sie mir aus den Händen und richtete sie so zu. Meine arme Angela …“

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… die vollständige Geschichte findet sich in dem Buch / eBook
Weihnachten
Weihnachtsgeschichten
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-9-8 (Buch)
ISBN 978-3-939937-57-9 (eBook epub-Format)

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